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„Mäuschen, hast du dir das auch gut überlegt?" fragte meine Mutter zögerlich und beobachtete mich beim Packen. Ich schmiss die letzten Wertgegenstände in meine Handtasche und schaute sie danach ein wenig außer Atem an. Theo kuschelte sich friedlich an die Brust seiner Oma, während seine Augen strahlten. In wenigen Wochen wurde er erst ein Jahr alt und hatte schon mehr Familientragödie durchstehen müssen als manch andere in ihrem ganzen Leben. Und jetzt riss ich ihn hier schon wieder aus der Umgebung, an die er sich doch gerade erst gewöhnt hatte. Es musste sich einfach lohnen, was ich tat. Es war für ihn - und für mich, nein uns. „Mama, ich habe kreuz und quer und dreitausendmal darüber nachgegrübelt. Ich muss es wenigstens versuchen. Er ist mein Mann und ich vermisse ihn.", „Du musst es aber nicht eures Sohnes wegen tun. Er wird auch so behütet aufwachsen. Vielleicht vermisst du auch nur die Erinnerung an euch und nicht unbedingt ihn-" versuchte Mama es weiter, doch ich unterbrach sie: „Es ist nicht nur wegen Theo, sondern auch, weil ich an uns glaube. Andere Paare haben das auch geschafft, sogar schlimmeres. Da schaffen Marco und ich es doch mit links." ich setzte ein optimistisches Lächeln auf und folgte ihr danach nach unten. Letztens erst hatte ich im Fernsehen mitverfolgt, wie eine Frau jahrzehntelang ihren Mann gedeckt hatte. Er hatte jemanden im Affekt umgebracht und sie haben sich gegenseitig unterstützt. Naja, aber ob man das überhaupt tun sollte? Eigentlich nicht. Bloß keinen Rückzieher jetzt, Bella!
Unten räumten Marco und mein Vater die letzten Sachen in Marcos Auto, ohne wirklich ein Wort miteinander zu wechseln. Wie sollte das bloß wieder in Gang kommen? Die Atmosphäre war noch immer unglaublich angespannt.
„Danke, dass ihr so für mich, aber vor allem für Theo da wart. Das ist nicht selbstverständlich." wandte ich mich emotional an meine Eltern während Marco unseren Sohn ins Auto setzte und anschnallte. Mama schluckte, dafür kam Papa auf mich zu: „Doch Kleine, das ist selbstverständlich. Du bist unsere Tochter." murmelte er gegen meinen Scheitel. Dann räusperte er sich und wurde leiser: „Und wenn es nicht klappt, wie du es dir vorgestellt hast, dann meldest du dich und kommst wieder hörst du? Sei nicht zu stolz." Ich nickte verstohlen: „aber Papa, bitte gib ihm auch eine Chance. Er ist immer noch Marco." wisperte ich leise. Papa nickte widerwillig. „Wir sehen uns morgen." lächelte ich. Schließlich hatte Mama sich dazu bereit erklärt auf Theo aufzupassen, solange ich noch keinen geeigneten Kitaplatz gefunden hatte.
Schon als ich die Haustür hinter mir zugezogen hatte, überkam mich ein mulmiges Gefühl. Marco saß bereits im Auto, also huschte ich schnell durch den Vorgarten und stieg ebenso ein. „Bereit nach Hause zu kommen?" grinste er mich erleichtert an. Das mulmige Gefühl rückte sofort etwas in den Hintergrund: „Ja, klar." wisperte ich sanft und lächelte unsicher.
Während der Fahrt starrte ich aus dem Fenster rechts von mir und sah dabei zu, wie sich im Dunkeln die Lichter zu langen, schmalen Strichen verzogen und versuchte meinen schlechten Gedanken keinen Raum zu gewähren, obwohl ich mich unglaublich einsam fühlte. So wie damals, wenn man auf Klassenfahrt musste und wusste, man bekam Heimweh, auch wenn sie doch so schön war. Ich verspürte das selbe Gefühl wie jenes, wenn man sich mit einem Herzensmensch stritt, bevor man sich lange nicht mehr sah und einem ganz kalt und flau wurde. Sollte ich mich nicht eigentlich darauf freuen, dass meine Ehe nicht scheiterte? Das Marco um uns kämpfte?
„Bella?" Marcos Hand berührte meine Schulter. Ich schreckte hoch und bemerkte mit einem schnellen Blick nach draußen, dass wir da waren. Zuhause. Schnell schnallte ich mich ab und folgte Marco, der unseren schlafenden Sohn auf seinem Arm trug: „Ich bringe ihn schnell ins Bett." flüsterte er mir zu. Nickend sah ich ihm hinterher, wie er die Treppen hoch eilte und schlüpfte währenddessen ganz langsam aus meinen Schuhen. Hier roch es noch genauso, wie immer und es war genauso warm wie immer. Genauso wohlfühlend und einladend. Langsam ging ich durch den Flur, um in die große Wohnküche zu gelangen. Meine Finger schoben sanft die Glastür auf. Mein Herz schlug mir bis zur Brust. Ja, für meine Seele war es wie nach Hause kommen. Es fühlte sich entgegen aller Erwartungen genauso an. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Mein Herz jedoch, brauchte noch Zeit das alles zu verarbeiten. Es pocherte wie wild, so unsicher war ich mir wegen jedem einzelnen meiner Schritte.
Als ich meine Augen wieder öffnete, nachdem ich tief ein und aus atmete, bemerkte ich einen großen Blumenstrauß auf der Küchentheke stehen. Mit einem verschmitzten Lächeln ging ich darauf zu und roch an eine der Blüten - bis mir eine kleine rote Schachtel auffiel, die an der Vase lehnte. Ich sah mich kurz um, bevor ich zuließ, dass meine zittrigen Finger nach ihr griffen und sie öffneten. Zum Vorschein kam eine filigrane goldene Kette. In dessen Mitte hing eine kleine, dezente Perle, welche die Form eines Herzens hatte. Sie sah wunderschön aus. Sehr edel und elegant.
Plötzlich hörte ich Marcos Räuspern hinter mir. Erschrocken drehte ich mich um und lächelte ihn ertappt an. Ihm entfloh ein lautes Schmunzeln: „Ich mache sie dir um." wisperte er leise. Mein ganzer Körper spannte sich sofort an, nachdem seine Worte mich erreichten. Vorsichtig zog er mir die Kette aus der Hand, bevor er sanft seine Hände um meine Taille legte, damit er meinen Rücken wieder in seine Richtung zu drehen konnte. Dann spürte ich, wie er mir näher kam - sein Atem streifte die nackte Haut meines Nackens und hinterließ eine dicke Gänsehaut auf meinen Unterarmen. Ich entspannte mich langsam, weil ich seine Nähe zuließ. Als seine Fingerspitzen meinen Nacken berührten, um mir meine Haare über die Schulter zu legen, kribbelte es in mir. Dann schaffte er es endlich den Kettenverschluss ineinander zu fädeln und ließ seine Hände an meinen Schultern hinunter gleiten. Sie verweilten auf meinen Oberarmen als ich spürte, wie er seine Lippen liebevoll auf mein nacktes Schulterblatt legte, um genau dort einen Kuss zu platzieren. Kurz verharrten wir genauso - bis ich mich umdrehte und ihm in die Augen blickte: „Danke" entfloh es mir beinahe tonlos. Marco antwortete nichts, er schaute mich nur dankbar an und schluckte laut. Ich versuchte ihn zu lesen, doch es gelang mir nicht. Vorsichtig rutschten seine Hände wieder auf meine Hüften. Zwischen uns lagen nur noch wenige Zentimeter: „Ich bin einfach nur froh, dass du mir noch eine Chance gibst.", „Uns." korrigierte ich ihn augenzwinkernd. Er lächelte zufrieden, bevor er sich einen Ruck gab und die letzten Zentimeter zwischen uns schloss.
Auf einmal, da lagen seine Lippen wieder auf meinen und meine Hände legten sich wie von selbst auf seine Wangen.
Als wären die letzten Wochen nur ein Fiebertraum gewesen. Doch ich musste aufpassen, dass ich mich im hier und jetzt nicht wieder verlor.

Optimisten - Marco ReusΌπου ζουν οι ιστορίες. Ανακάλυψε τώρα