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Ehe ich mich versah, stand das letzte Spiel der Saison an. Wenn wir heute gewinnen und der RB Leipzig verliert, würden wir als Tabellenzweiter die Saison abschließen. Im DFB Pokal schieden wir zwar schon zu Beginn der Saison aus, aber in der nächsten saß sogar noch die Champions League drin. Besser hätte es nicht laufen können, waren wir doch zeitweise im untersten Drittel der Tabelle gelandet, bevor Edin und ich das Team übernommen hatten.
Zitternd lief ich immer wieder die gleiche Route durch den Vorraum der Pressekonferenz ab und versuchte die gedämpften Stimmen der etlichen Reporter nebenan auszublenden. Vor den letzten zwei Konferenzen hatte ich mich erfolgreich gedrückt, doch heute musste es sein. Schließlich hatte ich einen Entschluss gefasst, den ich mit Sicherheit rechtfertigen musste. Plötzlich ging die Tür auf und Marco betrat den Raum. Auch er sah nervös aus. Doch ich wusste bereits, dass er einen weiteren Jahresvertrag abgeschlossen hatte, so etwas ging nicht an mir vorbei. Ansonsten wäre dieses Spiel das letzte seiner Karriere gewesen. Doch er war fit, er wollte es wirklich und das Fußballspielen war Teil seines Lebens. Ich verstand seine Entscheidung, auch wenn ich sie vor einem Jahr eben nicht verstanden hätte. Nervös schaute der Blondschopf herüber zu mir, bevor er mit vorsichtigen Schritten die letzten Meter zwischen uns schloss. Ich schaute ihm tief in die Augen und lächelte ihn an: „Deine Entscheidung war die richtige, Marco. Du spielst noch super, bist topfit - hättest du nach dieser Saison voller Turbulenzen aufgehört, dann wäre das absolut schade gewesen." versuchte ich ihm die Aufregung zu neben. Etwas verwundert schaute er zu mir hinunter und nahm erst seine Hände hoch, um mich zu berühren, doch beherrschte sich, eben das nicht zu tun.
Schon vor kurzen als wir den Tag am Pool mit Theo verbracht hatten, bemerkte ich wie er sich immer wieder zurückhalten musste, meine Nähe zu suchen - und ich wusste nicht wie ich reagieren sollte.
Marcos Worte in mir hatten etwas in mir ausgelöst, das ich noch nicht einzuordnen wusste. Ich war etwas entspannter, so langsam sah ich ihn wieder so, wie ich ihn früher sah und erkannte wieder den Menschen in ihm, der er eigentlich war. Das tat unglaublich gut.
„Du weißt davon-" Marcos Augen wurden groß: „Ach, natürlich." winkte er ab und atmete laut aus. Ich grinste.
Während der Pressekonferenz wurde eben diese Verlängerung von Marco verkündet. Ich driftete immer wieder ab und wartete nur auf den Moment an dem meine Entscheidung endlich laut ausgesprochen wurde. „Bevor wir die Konferenz beenden noch eine wichtige Sache, die wir zu unserem bedauern mitteilen müssen." Sascha Fligge deutete zu mir. Ich setzte mich auf und räusperte mich kurz: „Richtig" lachte ich leise: „Ich habe den Verein gebeten, meinen Vertrag als Trainerin nicht zu verlängern. Ich werde meine alten Aufgaben aufgreifen und wieder ein bisschen Sportwissenschaftlich, für die Jugend und als Athletiktrainerin für den Verein tätig sein. Es war eine tolle Erfahrung, aber ich merke wie schwer es ist, das alles und meine Familie unter einen Hut zu bekommen und würde mir diese Tätigkeit gerne für einen späteren Zeitpunkt bewahren." mehr sagte ich nicht und zu meinem Glück blieben auch die großen Fragen aus.
Nur einem stand das Fragezeichen förmlich ins Gesicht geschrieben.
Unglaublich erleichtert ging ich durch den Vorraum zu den Gängen des Stadions. In meinem Kopf hämmerte nur noch der Gedanke, dass ich funktionieren musste. Noch zwei Mal - heute und für den Gerichtstermin morgen. Vielleicht schob ich deswegen meine Gesundheit und die Gefühle die sich in mir anstauten immer und immer wieder beiseite.
„Bella!" hörte ich Marco hinter mir. Ein bisschen zu ruckartig drehte ich mich um und rieb mir kurz die Augen, bevor ich ihn ansehen konnte. „Du hast es mir gar nicht erzählt." lächelte er. „Ich weiß, ich war heute morgen erst im Büro für das Gespräch und hatte noch nicht die Zeit-" Marco unterbrach mich mit einem Kopfschütteln: „Hör auf dich zu rechtfertigen. Ich bin stolz auf dich, die Entscheidung muss dir nicht leicht gefallen sein, aber du hast es für dich getan und für Theo." Ich räusperte mich leicht: „und auch für dich" murmelte ich beinahe tonlos und schaute ihn erwartungsvoll an. In meinem Bauch begann es merkwürdig zu ziehen. Marco warf mir einen überraschten Blick zu, so als ob er zunächst dachte sich verhört zu haben. Doch dann entwickelte sich dieser Blick zu einem breiten Grinsen, das fast schon schüchtern wirkte. Vorsichtig legte ich meinen rechten Arm auf seiner Seite ab und suchte nach Blickkontakt: „Marco - morgen zu der Verhandlung" begann ich schüchtern: „Würdest du mich begleiten?", „Das steht außer Frage" antwortete er direkt: „Natürlich." Ich nickte angespannt: „Danke" und atmete tief aus. Zwei Mal noch funktionieren, dachte ich mir.
Ich wusste gar nicht mehr, wie ich dieses Spiel überhaupt hinter mich bringen konnte, ohne umzukippen. Alles fühlte sich nur noch an als hätte ich mindestens einen Promille im Blut und ich hörte die Fans im Stadion nach kurzer Zeit schon nur noch wie durch Watte. Vielleicht war es ja der Druck, der so langsam von mir abfiel. Ich konnte es mir nicht erklären.
Das wichtigste war aber, dass wir das Spiel gewonnen hatten. Edin und ich klatschten uns vor einer kurzen Umarmung siegessicher ab. Das Adrenalin, das mir in diesem Moment durch die Adern schoss, führte dazu, dass ich mich wieder etwas besser, gar schon wacher fühlte.
Dieses Gefühl hielt die ganze Busfahrt im Mannschaftsbus zurück nach Brackel an. Dort verlief sich wie immer alles schnell, Mats zischte ab, Marco hatte ich nicht mehr gesehen und Edin winkte mir nur kurz zu, bevor er in sein Auto stieg und davon raste.
Als ich selbst zu meinem Auto wollte, hörte ich zwei mir nur allzu bekannte Stimmen laut miteinander diskutieren. Mein Atem stockte und der schnelle Gang den ich drauf hatte wurde binnen einer Sekunde langsamer, bis ich völlig stehen blieb.
„Ich kann nicht fassen, dass du so etwas abgezogen hast!" zischte Marco wütend, doch Mario schaute ihn nur verletzt an: „Es war nur sex. Ich habe mich in etwas verrannt - es ist für uns alle besser, wenn wir es einfach vergessen." Obwohl ich damit schon gerechnet hatte und eigentlich seiner Meinung war, verletzte es mich, dass Mario mich als mein bester Freund so ausgenutzt hatte. Doch vielleicht hatte ich es ihm gleichgetan. Ich fragte mich plötzlich, ob ich ganz frei von Schuld war. Hatte ich ihn nicht auch ein wenig ausgenutzt? Mich in seine Zuneigung verbannt? Doch - schon. Genau wie er bin ich seit unserer Nacht jedoch auf den Boden der Tatsachen angekommen. Mario und ich - wir hatten uns nicht ineinander verliebt, nein wir waren beide verletzt und haben im jeweils anderen jemanden gesucht, den wir füreinander niemals hätten sein können und das wurde mir erst jetzt klar - während es ihm wahrscheinlich schon seit jener Nacht bewusst war.

Optimisten - Marco ReusWo Geschichten leben. Entdecke jetzt