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Eigentlich hätte ich überglücklich sein müssen, als ich nach wochenlangem Hin und Her endlich wieder arbeiten gehen durfte. Mein Herz hätte vor Freude Purzelbäume schlagen müssen, als ich aus Mats Auto stieg und meine Füße den Bordstein des Trainingsplatzes in Dortmund-Brackel berührten. Doch irgendetwas hielt mich zurück. Ich verspürte eher Angst, als Freude. Eher war mir dazu zu Mute, zu fliehen, anstatt mit erhobenen Hauptes durch die Flure zu stolzieren und ich konnte beim besten Willen meinen Hintern nicht von diesem Beifahrersitz bewegen. Das was mir hier in den letzten Jahren passiert war hatte etwas mit mir gemacht, dass meine ganze Basis zerstörte. Ich konnte diesen Ort nicht mehr mit purem Glück und Freiheit verbinden, denn mit der Zeit ist dieser Ort immer negativer und trister für mich geworden. Die Suspendierung hatte dem Ganzen die Krone aufgesetzt.
Plötzlich starrte ich nicht mehr auf die grauen Pflastersteine, sondern auf Mats teure Sneaker. Mein Blick wanderte langsam zu ihm hoch. „Los geht's!" lächelte mein Cousin mich motiviert an, bis er meine gefährlich feuchten Augen entdeckte. Langsam ging er in die Hocke und musterte mich besorgt: „Was ist los?" wisperte er und schaute sich kurz um, ob wir unbeobachtet waren. Ich spannte alles in meinem Körper an, um ja nicht zuzulassen, dass ich hier einfach losheulte. „Ich weiß nicht, ich sage mir die ganze Zeit alles geht vorbei irgendwann, doch ich glaube, dass ich mir mittlerweile nicht einmal mehr selbst glauben kann." brummte ich. Mats seufzte verzweifelt: „Du bist schon seit gestern so in dich gekehrt.", „Ich weiß." gab ich zu. Gestern Abend kam er vorbei um mit mir den Erfolg beim Vorstand zu feiern, doch mir war gar nicht nach feiern zumute. Mario hatte mich total merkwürdig behandelt als ich wiederkam und so langsam keimte in mir der Gedanke auf, dass er in mir nur jemanden gefunden hatte bei dem er seinen Druck los wurde. Nun hatte er ja was er wollte und ich musste mit dem Fakt leben, dass ich mit Marcos besten Freund geschlafen hatte. „Mats ich habe mit Mario geschlafen." krächzte ich leise und schaute ihn mit großen Augen an. Mein Cousin schluckte so laut, dass er seine Verwunderung nur schlecht zurückhalten konnte: „Bitte was?" ein leises Lachen schaffte es über seine Lippen. „Das ist nicht witzig!" beschwerte ich mich und beugte mich nach vorne um ihn an seiner Schulter zu schubsen. „Du willst mir jetzt nicht sagen, dass du dich Marco gegenüber schlecht fühlst, oder?" er warf mir einen skeptischen Blick zu und begann seinen Kopf zu schütteln. „Doch", „Bella, du spinnst!", „Ich habe mit seinem besten Freund geschlafen und er geht zum Vorstand und legt sein Privatleben offen, damit ich wieder den Co-Trainer von Edin spielen darf." ich raufte mir die Haare und schaute ihn wehleidig an. „Ja, das ist ja wohl das Mindeste was er tun kann, er hat dich schließlich betrogen und ihr lebt gerade in einvernehmlicher Trennung oder hast du euer Gespräch am Lagerfeuer vergessen?" Ich schüttelte den Kopf. „Was soll's" schnaubte ich mit einem hämischen Lachen und hielt Mats meine Hand hin, damit er mich hochzog. Schwungvoll zog er mich auf meine Füße und schlug die Autotür hinter mir zu: „Ich bin eh nur eine Marionette von denen da Oben. Sie haben doch förmlich zugegeben, dass ich für sie hauptsächlich als Werbezweck diene." murmelte ich vor mich hin. Mats hielt wieder an und starrte mich baff an, doch ich zog ihn an seiner Hand mit mir ins Gebäude.
Ich war froh, dass die Saison in drei Wochen beendet war. Normalerweise fuhren Marco, Mario, Ann-Kathrin, Mats und ich immer gemeinsam in den Urlaub, meistens nach Ibiza, doch dieses Jahr hatte niemand von ihnen auch nur ein Wort darüber verloren. Ich würde meinen Urlaub wohl auf der Terrasse meines neuen Hauses verbringen müssen. Doch so lange Theo bei mir war, würde auch das schön werden. Heute morgen hatte ich gemeinsam mit Mats noch das Planschbecken von Ludwig aus seinem Keller geholt. Das würde ich aufbauen, sobald ich Zuhause wäre.
Als ich den Platz betrat, schnürte sich ein riesiger Knoten in meinem Unterleib, der sofort zu stechen begann. Ich war so nervös wie an meinem ersten Praktikumstag und konnte Mario und Marco nicht einmal eines Blickes würdigen. Da war ich ganz froh, als alles im Gang war und Edin mich an sich heran zog und wir die Planung für die letzten drei Spiele auf seinem IPad durchgingen.
Als die Spieler dann nach - für mich fühlte es sich glatt an wie Ewigkeiten - in die Kabine spazierten, konnte ich endlich wieder aufatmen. Die Sonne knallte mit voller Kraft auf den Platz und dennoch schwitzte ich vor Aufregung - so als hätte ich das Training gerade selbst durchgezogen.
So langsam schlauchte mich das alles viel zu sehr. Ich hatte mich nach der Nacht mit Mario das erste Mal seit Monaten gewollt und bestätigt gefühlt, doch je länger ich darüber nachdachte, desto verrückter machte mich das alles. So wie Mario gestern Vormittag zu mir war, als ich wiederkam, so war er noch nie. Da wurde für mich einfach kein Schuh draus. Er war total kalt und abweisend. und dann noch diese Worte bevor ich los musste. Wahrscheinlich bereute er das alles sofort oder er wollte sich aus der Affäre ziehen, weil er endlich bekommen hatte was er wollte. Doch eigentlich war Mario doch nie so. Er würde mich nie so hintergehen. Warum also verhielt er sich so?
Ich hatte mit diesem unüberlegten Verhalten alles noch komplizierter gemacht, als es bereits war. Doch ich wollte ehrlich sein. Ich musste Marco davon erzählen, egal ob es ihn etwas anging oder nicht. Ich wäre sonst kein bisschen besser als er, wenn ich es ihm verheimlichte oder er es womöglich noch von jemand anderen erfuhr. Und dann musste es endlich weitergehen. Mit der Scheidung, mit dem Gerichtsverfahren, das auf mich zu kam und mit meinem Leben. Leider sah ich, egal wie sehr ich es auch versuchte, momentan kein Licht am Ende meines Tunnels. Doch ich war mir sicher, dass ich einfach nur weiter machen musste, damit ich endlich meine innere Ruhe wieder fand.
„Kommst du?" fragte Mats als er vorsichtig seinen Kopf in den Spalt zwischen Tür und Rahmen steckte. Ich schlüpfte in meine Schuhe und band meine nassen Haare zu einem unordentlichen Knoten zusammen. Als wir das Gebäude verließen, erschlug mich die Hitze so, dass ich mich plötzlich so fühlte als wäre ich einen Marathon gerannt und müsste mich vor Erschöpfung sofort hinlegen. Gerade als ich meinen Blick von der Sonne abwandte, realisierte ich den unsicher lächelnden Blondschopf vor mir, der sich nervös räusperte und seinen Mund einen Spalt öffnete.

Optimisten - Marco ReusWhere stories live. Discover now