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Unsicher schlüpfte ich am nächsten Morgen in meine lockere Anzughose und bekam kaum den Knopf zu, so zittrig waren meine Finger. Ganz bewusst kleidete ich mich heute nicht in schwarz, die Hose war in einem hellen beige und zog ich ein enges weißes Shirt dazu gerade über meinen Kopf und meine langen braunen Haare waren zu einem strengen tiefen Zopf gebunden. Nervös stürzte ich Sekunden später die Treppen herunter. „Bella, ich würde die Pumps anziehen." meine Mutter deutete mit ihrem Kopf auf die weißen Riemchensandalen mit Absatz vor mir auf den Boden, während ich mich auf die Sofalehne setzte um in meine weißen Sneaker zu schlüpfen. Theo schaute mich beinahe amüsiert von ihrem Arm aus an, als ich ihr einen gequälten Blick zuwarf. Manuela rümpfte die Nase: „Ich finde das mit den Sneakern passt so perfekt. Wir sind hier immer noch in Dortmund und du gehst zum Arbeitsgericht und nicht auf eine Modenschau in Mailand!" Ich warf ihr einen dankbaren Blick zu und musste gleichzeitig überlegen, wann wir alle zusammen zuletzt hier in Marcos und meinem gemeinsamen Haus Zeit miteinander verbrachten. Es fühlte sich an als sei das Ewigkeiten her und gleichzeitig war es doch so vertraut und wohlig hier mit allen zusammen, als wäre das alles nie anders gewesen. Doch das war es. Ich hatte ein Haus am Phönixsee gekauft, das ich mittlerweile sehr lieb gewonnen hatte und obwohl dieses Haus seit Jahren mein gemeinsames Zuhause mit Marco war, verband ich es mittlerweile mit so viel Leid und Streit, dass ich glatt Angst hatte hier zu bleiben, jetzt wo Marco und ich ernsthaft wieder zueinander gefunden hatten.
Mama gab sich jedenfalls geschlagen und folgte mir und Manuela auf die Terrasse. Marco, Thomas, mein Vater und Mats machten es sich auf den Gartenmöbeln in der knallenden Sonne bequem und tranken um drei Uhr Nachmittags schon das erste Bier. Als ich mit Theo auf dem Arm durch die Tür kam, stand er wie von der Tarantel gestochen auf und musterte mich von oben bis unten, während ich auf ihn zu lief. Bei ihm angekommen legte er vorsichtig seine Hände auf meine Wangen, bevor seine Lippen voller Zärtlichkeit meine berührten. Eine fette Gänsehaut überrollte meine Haut in dem Augenblick als sein Atem mein Gesicht streifte und er mir so nah war, wie schon seit Monaten nicht mehr. Es fühlte sich richtig an, das zwischen uns. Als wir uns lösten, konnte ich nicht anders und musste grinsen. Danach berührten seine Lippen Theos rotblonden Haaransatz, der seinen Vater genauso glücklich wie ich anstrahlte. Ich platzte fast vor Freude, wusste nicht, ob ich so ein Gefühl von Familie bei uns jemals wirklich gespürt hatte. Dann blickte ich hinter Marco in Mats erleichtertes Gesicht: „Das ich das noch einmal erleben darf, euch so harmonisch miteinander zu sehen." scherzte er sofort drauf los. Marco drehte sich lachend zu ihm um. „Wie ist es nur so plötzlich dazu gekommen?" hakte Mats wieder nach, so als hätte er es nicht schon den ganzen Tag versucht herauszufinden. „Die Mantaplatte konnte alles retten." schmunzelte Marco und schaute mich wieder zufrieden an; seine Augen strahlten mit der Sonne um die wette. Lachend schlug ich ihm gegen die Brust: „Spinner." murmelte ich leise. Marco winkte ab und lächelte: „Du siehst gut aus. Sehr souverän." versuchte er mich aufzuheitern. Ich war so nervös vor dem Gerichtstermin, dass meine Handflächen klitschnass waren und meine Knie zu den unvorhersehbarsten Momenten weich wurden, sodass ich glatt Angst bekam sie würden jede Sekunde nachgeben.
Marco trug für den Termin ein simples hellblaues Hemd, das er durch das heiße Wetter oben aufgeknöpft ließ und eine lockere dunkelblaue Anzughose, die an seinen Knöcheln endete. An seinen Füßen klebten auch niegelnagelneue weiße Sneaker - sehr zum Bedauern meiner Mutter, die ihr Gesicht verzog, als sie das bemerkte. Für sie gab es nichts schlimmeres als Männer, die Sneaker zu einem Anzug trugen und keine Krawatte. „Ich fühle mich als würden wir gleich noch einmal zum Standesamt wegen euch gehen." meldete Mats sich mit einem verschmitzten Grinsen wieder zu Wort. Lachend stellte ich mich hinter ihn und drückte seinen Kopf in einer nickenden Bewegung nach unten: „Das Standesamt und ein Gerichtstermin meiner Größenordnung sind leider zwei verschiedene paar Schuhe mein Lieber." bemerkte ich bedauernd, aber lachte trotzdem leise. Marco biss sich derweil nur nachdenklich auf die Unterlippe.

Meine und Marcos Eltern passten freundlicherweise gemeinsam zuhause auf Theo auf. Schließlich wollten wir ungern, dass unser Sohn auch nur in seinem Unterbewusstsein eine Erinnerung von seiner Mutter vor Gericht hatte und sobald wir das Gebäude betraten, wurde mir klar, dass das genau die richtige Entscheidung war. So viele Reporter hatte ich noch nie auf einem Fleck gesehen. Mats Augen wurden ganz groß als er realisierte, dass dieses Großaufgebot hauptsächlich wegen mir hier war. Er und Marco liefen locker je an einer Seite von mir, beinahe wie Bodyguards - den letzten Jahren nach zu urteilen war klar, dass es nicht nur sinnbildlich so war - sie waren wirklich meine Beschützer. Sie sorgten dafür, dass es mir an nichts fehlte. Natürlich waren wir nicht perfekt und das war mir bewusst, aber ich war auch nicht perfekt, in keinster Weise. Unwohl legte ich meine Hand auf meine schmerzende Bauchgegend und Verzog das Gesicht. Doch wie schon so oft schob ich dieses fiese Ziehen, dass ich durch den Stress der über Monate an mir zehrte vermutete, beiseite und bildete mir es  würde sich alles entspannen, sobald ich diesen Albtraum von Schussfeuer das heute auf mich einprasseln würde, überstanden hätte. In ein paar Stunden wäre das alles hier endgültig vorbei und die Vorwürfe abgewiesen. Das versprach mir Sekunden später jedenfalls mein Anwalt, der das Staunen, das in ihm aufkeimte als er Marco und mich zusammen sah, nicht einmal zu unterdrücken versuchte. „Die Scheidungspapiere können dann wohl in den Schredder?" wollte er amüsiert wissen. Marco schaute auf unsere Hände und dann zu ihm auf: „Können sie" sagte er siegessicher. Ich wünschte mir, dass ich in Hinblick auf die Verhandlung nur Halb so Siegessicher sein könnte wie er in diesem Moment. Obwohl es sich komisch anfühlte, dass zwischen Marco und mir alles normal sein konnte, überwog doch die Freude darüber - obwohl wir noch so einiges aufzuarbeiten hatten, damit unsere Beziehung sich wirklich langfristig und nachhaltig änderte.
Fakt war, dass dieses Aufgebot wirklich am letzten Strang meiner Nerven und meines Stresslevels zog - und ich nicht mehr wusste woher ich die Ressourcen nahm, mich für die erste Aussage an den Tisch gegenüber des Richters zu setzen.

Gute zwei Stunden ließ ich mich in einem Beratungsraum auf einen der Sessel fallen und stöhnte genervt auf. Am liebsten hätte ich geschrien, aber ich war so heiser, dass nichts mehr herausgekommen wäre außer ein Fiepsen: „Schlimmer hätte es nicht kommen können." durchbrachen meine Worte die Stille. „Das stimmt doch gar nicht!" widersprach Mats mir unglaubwürdig. Seufzend starrte ich zu ihm herüber. Doch. Es stimmte. „Ich hätte nicht damit gerechnet, dass sie immer noch an der Wahrhaftigkeit ihrer erfundenen Geschichte festhält." räusperte sich mein Anwalt. So einfach war es anscheinend doch nicht, die Klage abzuwenden. Vor meinen inneren Auge sah ich schon den verurteilenden Eintrag in mein Führungszeugnis und meinen Gang zum Arbeitsamt, weil ich mit Sicherheit nie wieder einen Job finden würde, wenn Louisa diese ganze Sache weiter durchzog.
Ich hätte sie bis aufs übelste beleidigt und erniedrigt, jeden Tag aufs Neue bis ich es endlich geschafft hatte, dass der Verein sie herauswarf. Ich als ihre Ausbilderin hätte ihr mit meinem Verhalten keine andere Wahl gelassen, als das Duale Studium abzubrechen. Absichtlich habe ich ihr nachgesagt sie hätte mit meinem Mann geschlafen - Rufschädigung begangen. In meinem Ohr hallte noch ihr lautes Schluchzen nach und obwohl es dazu führte, dass ich eine ekelhafte Gänsehaut bekam, tat sie mir einfach nur leid. Wie verzweifelt musste sie sein, um sich so etwas auszudenken? Die Gedanken von eben diesem „Warum" schwirrten mir die ganze Zeit im Kopf herum - doch ich traute mich nicht sie laut auszusprechen. Marco stellte sich hinter den Sitz und legte beschützend seine Hände auf meinen Schultern ab: „Mache dich nicht so klein, Bella. Du hast recht. Du weißt es - wir wissen es - alle wissen es. Dieses Schmierentheater kauft ihr doch keiner ab." Abrupt stand ich von dem Sessel auf und drehte mich zu ihm: „Marco" schrie ich schon fast auf, nachdem ich mich kurzerhand doch dazu entschied, meinen Gedanken freien Lauf zu lassen: „Du musst mit ihr sprechen - ich meine, so ganz vernünftig. Vielleicht, nein ganz bestimmt, hat sie sich wirklich in dich verliebt."
Mein Anwalt verzog beinahe schon schmerzerfüllt sein Gesicht. Doch ich sah genau in diesem Gespräch eine Chance, denn was war schon gefährlicher als eine Eifersüchtige Frau wie Louisa auf Rachefeldzug?

Optimisten - Marco ReusWhere stories live. Discover now