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Die weißen Wände des Besprechungsraums der Klinik erdrückten mich. Sie wirkten einschüchternd, kahl und - ach was redete ich da. Niemand mochte den sterilen Geruch von Krankenhäusern oder Kliniken. Es fing bei den Wänden an, die meistens nur bis zur Hälfte mit irgendeiner unschönen Farbe bemalt wurden und hörte mit dem trockenen, labbrigen Brot auf, das einem morgens sowie abends aufgetischt wurde.

Erst als Marco seine Hand auf meinen Oberschenkel legte, seinen Daumen sanft auf meiner Kniescheibe kreisen ließ und seine Wärme mich durchströmte, hörte ich auf mit meinem Bein zu zappeln - meine Gedanken hörten sich um die eigene Achse zu drehen.
Plötzlich sprang die Tür auf und so auch Marco. Er reichte dem Doc seine Hand und sie lächelten sich bei ihrer Begrüßung souverän an. Ich wusste nicht, warum ich sitzen blieb. Vielleicht hatte ich keine Kraft aufzustehen, weil ich schon ahnte was auf mich zukam. Es gab Menschen, die hatten Glück im Leben. Sie gewannen bei irgendwelchen Gewinnspielen oder im Lotto, bekamen ohne Probleme ihren Traumjob, die besten Noten, so viele Kinder wie sie wollten - die Liste war lang. Ich hingegen, hatte immer mal wieder solche Momente, in denen ich in die Scheiße griff. Sprich: ich war niemand, der Glück hatte - oder besser: Ich konnte dem was mir geschah schon immer realistisch begegnen.

„Frau Reus, ich muss ihnen leider sagen, dass ihr Tumor ein Sarkom, also bösartig, ist."
Für einen Moment schloss ich meine Augen und schluckte. Ich musste an die Klippe denken, die ich mir gestern Abend vorgestellt hatte und sah mich vor meinem inneren Auge, wie ich dort ohne zu zögern hinunter sprang. „Ihr Tumor ist im Stadium eins, das heißt, dass er glücklicherweise nicht metastasiert hat, gut abzugrenzen und kleiner als fünf Zentimeter ist. Es ist wichtig, frühzeitig abzuklären was ihnen wichtig ist. Ich kann ihnen ja mal grob erzählen, was es für Möglichkeiten gäbe. Damit wir besser an den Eierstock kommen, würden wir den Tumor zumachst bestrahlen, um ihn dann zu entfernen. Hierbei besteht aber ein hohes Risiko der Unfruchtbarkeit - andererseits, würden wir sofort operieren, dann könnten wir den Eileiter beschädigen und sie hätten nur noch einen Eileiter, der die Fruchtbarkeit ohnehin einschränkt. Eine Therapie ohne Bestrahlung und Operation wäre sehr riskant, da gar nicht so engmaschig kontrolliert werden kann, um eine Verhinderung des Streuens zu gewährleisten. Wie sieht es denn aus mit ihrem Kinderwunsch Frau Reus?" Es gab also zwei Möglichkeiten und bei beiden wurden mir bei meinem Glück weitere Kinder verwehrt?
Mein Blick wanderte vorsichtig zu Marco, der mich bereits anstarrte als würde er irgendeine Reaktion von mir erwarten, so als müsste ich sofort in Tränen ausbrechen, wütend werden oder anfangen zu schreien. Seine Hand legte sich wieder auf meinen Oberschenkel als er sich räusperte: „Ich kann nur sagen, dass Isabellas Leben vorgeht." seine Stimme brach am Ende weg: „Also sollten wir so schnell wie möglich anfangen, sodass der Krebs nicht streut oder was auch immer. Das wäre eine Katastrophe. Wir haben einen einjährigen Sohn zuhause, der seine Mutter braucht." Mir rutschte bei diesen Worten das Herz wortwörtlich in die Hose und dennoch konnte ich nur starr dasitzen. Natürlich hätte ich gerne mehr Kinder, wäre noch öfter schwanger geworden - mit einer intakten Beziehung zu meinem Ehemann im Hintergrund. Mit mehr Freude, Glück, Bewusstsein. Ich wünschte mir in diesem Augenblick nichts sehnliche, als dass ich die Zeit doch bitte wieder zurück drehen könnte. Viel weniger hätte ich mich in Arbeit und Stress verfangen. Falscher Ehrgeiz war ohnehin nie meins. Zu allen Untersuchungen nach meiner Fehlgeburt oder nach der Op vorletztes Jahr wäre ich gegangen und ich hätte etwas mehr für mich getan. Rückwirkend erschien es mir so leicht, alles zu verhindern.
„Ich brauche Bedenkzeit." unterbrach ich Marcos Gespräch mit dem Doc schließlich. Beide sahen mich entrüstet an. „Bedenkzeit?" entfloh es Marco ungläubig. Ich nickte wortlos. Der Arzt warf mir einen verständnisvollen Blick zu: „Okay. Ich würde sagen, wir machen in genau zwei Tagen ein Therapiegespräch und dort wird das weitere vorgehen festgelegt. Haben sie dort Zeit?", „Natürlich" lenkte Marco sofort ein und nahm die Unterlagen des Arztes entgegen, aber nicht ohne mir einen prüfenden Blick zu zuwerfen. Ich stand auf, strich meinen Rock glatt und streckte meine Hand aus, um die des Docs zu schütteln: „Danke" lächelte ich reserviert.

Bis wir wieder zuhause ankamen, redeten Marco und ich nicht viel. Das mussten wir beide erst einmal sacken lassen.
„Warum fährst du nicht rechts?", „Wieso rechts? Da geht es zum Phönixsee.", „Ja, richtig. Gleich war doch der Termin mit dem anderen Makler, wegen meinem Haus!", „Da fahre ich alleine hin, Schatz. Du kannst dich Zuhause ausruhen."
Ich schaute ihn sprachlos an. Für einen Augenblick wandte Marco seine Augen vom Verkehr vor uns ab und schaute mich hingegen emotionslos an. Sein Blick driftete wieder zurück und ich ließ mich tiefer in den Beifahrersitz fallen, während ich mich darauf konzentrierte ganz ruhig zu atmen, damit ich mich nicht aufregte. „Du weist schon, dass ich nicht krank bin, oder?" sagte ich irgendwann angespannt. „Bella" schnaubte er: „Du bist vielleicht gerade nicht offensichtlich krank - aber du hast Krebs. Dir wurde vor einer halben Stunde gesagt, dass du Krebs hast und du möchtest zum Makler gehen und brichst das Gespräch bezüglich deiner Therapie ab?" Er erschien ratlos zu sein. Vor Hilflosigkeit rutschten seine Hände nervös das Lenkrad hoch und runter. Sein ganzer Körper signalisierte mir, dass er in Alarmbereitschaft war als ich ihn musterte, weil er total angespannt war.
Wieder ließ ich mich zurück in den Sitz sinken. Warum fühlte ich nichts? Warum dachte ich, dass ich zittern würde sobald man diese Worte laut aussprach? Wieso ging ich davon aus, dass ich sofort weinen würde? Wie verhielt man sich nach so einer Diagnose denn überhaupt „richtig"? Ich war ratlos und mir fehlte obendrein die Kraft darüber nachzudenken. Ich war froh, dass Marco ausstieg, um den Kleinen von seinen Eltern abzuholen.

Zuhause angekommen, gab ich mich also geschlagen, stieg aus dem Auto aus und ging mit dem Kleinen auf dem Arm ins Haus, während Marco direkt weiterfuhr, um sich mit dem Makler zu treffen.
Die Tür fiel hinter uns zu. In der Garderobe setzte ich mich auf die Knie um Theos Schuhe und seine Jacke auszuziehen. Er stand von der Sitzbank auf und kam mir mit ausgestreckten Armen entgegen. Seine kleinen Arme schlangen sich um meinen Hals, seine Finger vergruben sich in meinem Haar und er legte instinktiv seinen Kopf auf meine Brust ab. Er ließ sich komplett fallen. In den Armen seiner Mama. Ich legte meine Arme um seinen kleinen Körper und atmete seinen Duft ein.

Plötzlich waren sie da, die Tränen - als ich mein Baby in den Armen hielt und mir bewusst wurde, was mir blühte.

Optimisten - Marco ReusWhere stories live. Discover now