74.

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Der nächste Morgen und ich wachte tatsächlich auf wegen eines Tritts - mitten ins Gesicht.
Ich musste mich kurz sammeln als ich dadurch meine Augen aufriss und realisierte, dass ich mit Theo zusammen in Marcos und meinem Bett lag. Dieses Kind machte sich breiter als jedes Wesen, das ich kannte. Schmunzelnd rückte ich näher an ihn heran und streichelte ihm sanft über sein Gesicht, bevor ich mir meine brennenden Augen rieb. Ich konnte gestern nicht mehr an mich halten - mein Vorhaben nicht mehr zu heulen, das konnte ich gepflegt vergessen. Marco hatte verzweifelt versucht mich zum Reden zu bringen, doch ich entschuldigte mich bloß die ganze Zeit und legte irgendwann total überfordert auf. Müde griff ich hinter mir nach meinem Handy, das über Nacht auf dem kleinen Bettisch lag. Ganze zehn Mal hatte Marco noch versucht mich zu erreichen. Von einem schlechten Gewissen konnte man nicht mehr sprechen, es waren bereits heftige Schuldgefühle, die in mir aufkamen und mich noch wütender auf mich selbst machten als ich ohnehin schon war.
Müde entschied ich mich dazu, Theo ausschlafen zu lassen. Also schlich ich mich leise aus dem Bett und ging in die Küche.
Das leise Brummen der Kaffeemaschine erfüllte die offene Wohnküche, neben dem Vogelzwitschern von draußen, mit ganz normalen morgendlichen Geräuschen. Womit ich nicht rechnete, war das Geräusch des Haustürschlosses, von dem ich mir einredete ich hätte es mir bloß eingebildet. Ich hielt inne und drehte mich ganz langsam zur Wohnzimmertür um, in der Marco plötzlich in voller Vereinsmontur, Koffer neben sich gestellt und dem Rucksack auf dem Rücken, stand. Ich stellte die Kaffeetasse langsam auf der Arbeitsfläche ab und kniff mir selbst kurz ungläubig in den Unterarm, während ich ihn baff anstarrte.
Langsam breitete er seine Arme aus und warf mir einen vielsagenden Blick zu.
Ich schluckte laut und lief in schnellen Schritten auf ihn zu, um mich wortwörtlich in seine Arme zu werfen. Bereits als ich seine Wärme auf meiner Haut spürte, mir sein Duft in die Nase stieg und seine Finger sich langsam durch meinen Haaransatz strichen, da musste ich laut aufschluchzen: „Wie kann das sein? Warum bist du hier?" schniefte ich und schaute zu ihm auf. Auf seinem Gesicht zeichnete sich plötzlich eine Zufriedenheit ab, die ich lange nicht mehr darin gesehen hatte: „Ich habe drei Stunden geschlafen, bevor ich aufgestanden bin, mit Kehl gesprochen habe und sofort abgereist bin.", „D-d-du bist abgereist?" stotterte ich. Marco nickte und schaute mich eindringlich an: „Ja, weil es meiner Frau schlecht geht.", „Marco, das ist vielleicht dein letztes Sommertrainingslager für immer gewesen." schluchzte ich wieder auf. „Bella ich war nicht fast acht Stunden von Bad Ragaz nach Dortmund unterwegs, damit du mit mir wie meine Trainerin sprichst." er riss eine Augenbraue hoch - sein Blick wurde ernst: „Ich möchte, dass du mit mir als meine Ehefrau spricht, die anscheinend ziemlich miese Nachrichten bekommen hat." Ich nickte kurz, bevor ich meine Hände auf seine stoppeligen Wangen legte und meine Lippen voller Emotionen auf seine legte: „Danke" murmelte ich leise gegen seine Lippen, bevor ich ihn erneut küsste: „Danke, dass du extra für mich nach Hause gekommen bist." Meine Arme hatten sich mittlerweile fest um seine Körpermitte geschlungen. Ich drückte unsere Oberkörper gegeneinander und ignorierte den salzigen Geschmack von den Tränen in meinem Mund.
Marco ließ seinen Rucksack auf den Boden sinken und schlang seine Arme in Schulterhöhe um mich. Ich konnte hören, wie schnell sein Herz schlug - viel zu schnell. Er wurde verdächtig ruhig und brauchte einen Moment, sich zu sammeln, bevor er sich räusperte: „Es war nicht nur die richtige Entscheidung, sondern auch die einzige Wahl, Bella." hauchte er. Ich merkte, wie nah er den Tränen war und es versuchte, vor mir zu verbergen und mir wurde klar, wie schwierig diese Diagnose auch für ihn werden würde. Mir wurde ganz schwindelig als ich das realisierte und in meinem Kopf begann es wieder endlos zu Rattern: „Und jetzt redest du endlich Klartext mit mir." er löste sich von mir und schaute mir ernst in die Augen. Ich nickte bloß und ließ zu, dass er mich in Richtung Wohnzimmer schob.
Wenig später saßen wir auf dem Sofa und schauten uns wortlos an. Nervös spielte ich mit meinen Fingern herum und fragte mich, wie ich anfangen sollte. Es fiel mir selbst doch unendlich schwer es auszusprechen. Marco rückte näher an mich heran: „Bella, sag es einfach, ohne es zu erklären. Vielleicht fällt dir das leichter." Angespannt schaute ich zu ihm auf: „Ich habe wahrscheinlich kurz nach der Geburt einen Burnout gehabt." flüsterte ich kaum hörbar. Ich sah wie in Marcos Augen alles, was sich in ihm abspielte. Für ihn brach gerade seine Welt zusammen und für das Meiste gab er sich gerade die Schuld.
Es war schwierig mit einem Kind, das unter einem Jahr alt war, seinen Ehemann beim Fremdgehen zu erwischen, einen Scheidungskrieg durchzustehen, ein Haus zu kaufen, Co-Trainerin zu werden, seine beste Freundin zu verlieren, seinen besten Freund daraufhin ebenso und gleichzeitig Höllenqualen aufgrund der Trennung zu erleiden - das konnte ich nicht abstreiten. Doch das Problem hatte sich schon Jahre vorher angebahnt. Die Schwangerschaft war unglaublich chaotisch, Marco und ich hatten uns nur in den Haaren. Jahre davor die Fehlgeburt und der ganze Druck auf der Arbeit und von der Öffentlichkeit - anscheinend war ich daran zerbrochen.
Es hatte mich so weit zerstört, dass ich mittlerweile nicht einmal mehr selbst wusste, was mir überhaupt noch Spaß machte und wer ich überhaupt sein wollte. Als ich mich traute, wieder in Marcos Augen zu blicken, wandte er seinen Blick von mir ab. Tränen wanderten an seine Wage entlang. Ich starrte ihn an, es tat mir weh ihn so zu sehen: „Marco" wisperte ich. Er reagierte nicht. Zu groß war sein Schmerz, die Wut über sich selbst und der Schock. „Marco, es hat sich schon Jahrelang angebahnt. Du bist hier nicht der Schuldige in der ganzen Geschichte, den meisten Anteil trage ich wohl selbst." stürmisch schloss mein Mann die letzte Distanz zwischen uns und zog mich gegen seine Brust. Ich glaube, er hatte mich noch nie während unserer Beziehung so fest gehalten, wie in diesem Augenblick. Er legte sein Kinn auf meinen Scheitel und spannte jeden Muskel seines Körpers an: „Es tut mir so leid, dass wir in den letzten Jahren einander nicht mehr gut taten - dass ich nicht der Halt sein konnte, den du brauchtest." krächzte er plötzlich. Ich hielt inne - sagte nichts, sondern drückte mich enger an seinen Brustkorb. Für einen Augenblick verweilten wir in dieser Position.
Es war früh am Morgen, unser Sohn schlief, die Vögel zwitscherten draußen fröhlich vor sich hin und Marco und ich hielten uns so fest wie noch nie, während wir unter dem eingerahmten Bild des Luftballons saßen, den wir hatten steigen lassen für unser Sternenkind.
Der Anschien flackerte auf, dass uns dieses Ereignis von damals heimsuchen würde und das Bild uns obendrein noch verspottete.
Denn es gab schließlich noch eine wichtige Sache, die ich ihm sagen musste. Qualvoll löste ich mich aus seinem engen Griff und wischte mir die noch laufenden Tränen aus dem Gesicht, bevor ich mich räusperte: „Es gibt noch etwas wichtiges, das ich dir sagen muss." schniefte ich frustriert.
Marco schaute von seinen Händen die er gedankenverloren angestarrt hatte wieder in meine Augen. Es fiel ihm unglaublich schwer, seinen Blick nicht sofort wieder von mir abzuwenden.

„Marco, ich habe einen Tumor in einem Eierstock und die Möglichkeit besteht, dass er bösartig ist." - Da war sie, die Wahrheit. Ich hatte allen Mut zusammen genommen.

Optimisten - Marco ReusWhere stories live. Discover now