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„Bella, du musst aufstehen!" Marcos Stimme wurde lauter und das Rütteln seiner Hand auf meiner Schulter währenddessen immer stärker: „Wir müssen gleich zum Arzt. Bitte." flehte er. Ich brummte leise. Schon eine halbe Stunde lang versuchte er immer wieder mich aufzuwecken und es fiel mir noch immer unglaublich schwer die Augen auch nur zu einem kleinen Spalt zu öffnen. Das letzte Mal ging es mir so nach der Operation wegen des gutartigen Tumors vor der Schwangerschaft mit Theo. „Bella!" flehte er mich noch einmal verzweifelt an. Alles in mir strengte sich an, um endlich die Augen zu öffnen. „Ich dachte schon du-" seufzte Marco erleichtert und sprach lieber nicht weiter. Ich blickte müde zu ihm hoch. Meine Augen fielen beinahe im Sekunden Takt wieder zu, doch ich kämpfte dafür, dass sie offen blieben: „Marco, ich schaffe es nicht aufzustehen." krächzte ich schwach. Was war bloß mit meinen Körper los? In den letzten Jahren war ich so fit, relativ gesund und sportlich. Ich erkannte mich gar nicht wieder und fragte mich, wie mich eine normale Bestrahlung erst aus der Bahn werfen würde, anstatt der kleinen Kompromisslösung für die ich mich entschieden hatte. „Kein Wunder. Du hast ja auch keine Fettdepots, aus denen sich dein Körper jetzt bedienen könnte. Du bist viel zu dünn, seit Monaten und das schwächt dich jetzt zusätzlich." sagte er trocken. Ich räusperte mich und setzte mich mit aller Kraft auf. Wollte er mir jetzt die Schuld dafür geben das es mir schlecht ging? Nein, dachte ich mir sofort, er hatte ja recht. Sein Blick änderte sich plötzlich als ihm bewusst wurde, wie ernst die Situation war. Meine Hände zitterten, nachdem ich mich überanstrengt hatte. Besorgt blickte er an mir herunter und strich durch mein langes braunes Haar, das aussehen musste wie ein Vogelnest auf meinem Kopf. „Marco. Ich habe über neun Stunden geschlafen" begann ich leise: „und ich fühle mich so, als hätte ich die ganze Nacht durchgemacht. Mir tut alles weh." meine Stimme bestand nur noch aus einem heiseren Krächzen. Das erste Mal seitdem die Bestrahlung angefangen war, musste ich komplett ehrlich sein. Meine Beine waren schwer wie Blei und mein Herz fühlte sich in diesem Moment noch tausend Mal schwerer an. Marco musterte mich besorgt. Seine Atmung wurde unregelmäßig. Wie sehr ich mir wünschte, ihm as alles ersparen zu können. Vorsichtig rutschte er näher und schlang seine Arme so behutsam um meinen schwachen Körper, als hätte er Angst etwas an mir kaputt zu machen. Diese Vorstellung alleine schon ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Ein Schock durchfuhr mich plötzlich: „Wo ist Theo?" mit aller Kraft riss ich mich aus Marcos Umarmung und schaute ihn ängstlich an. Sofort zog er mich wieder in seine Arme und drückte mich beruhigend gegen seine Brust: „Bei Mats. Ludwig und Theo gehen heute Mittag in den Tierpark mit ihm. Jetzt gleich frühstücken sie erstmal mit deinen Eltern." Erleichtert atmete ich aus und versuchte angestrengt, die in mir aufkommenden Tränen zu unterdrücken. Was würde ich bloß ohne die Hilfe meiner Eltern und Mats tun? Ich könnte meinem eigenen Kind doch kaum gerecht werden. Das schlechte Gewissen meldete sich Mal wieder. Wie eigentlich jeden Tag.

Zwar nicht direkt um acht, sondern ganze zwei Stunden später, saßen wir im Behandlungsraum. Ich konnte das alles hier nicht mehr sehen oder gar ertragen. Seit Jahren musste ich immer Mal wieder hier sitzen und bangen - es war eine Zerreißprobe, auch für Marco nach all seinen Verletzungen, die seine Karriere bis heute prägten ging er ungerne in Krankenhäuser.
„Sechs Wochen und während der Bestrahlung sind natürlich normalerweise kein Zeitfenster, in dem der Tumor wachsen sollte." stellte der Doc unmissverständlich klar. Die Bilder der Aufnahmen zeigten deutlich, dass er ein kleines Stück gewachsen war. Sie hingen an der Wand gegenüber von mir und gaben mir das Gefühl ein Mahnmal für alles zu sein, das in den letzten Jahren bei mir nicht lief. „Wir könnten die Bestrahlung meines Erachtens noch zwei Wochen weiter versuchen." seufzte er daraufhin und schaute mich eindringlich an. Ich nickte einverstanden. Marco schaute stirnrunzelnd zwischen uns hin und her und war fassungslos: „Nein, das wird sicherlich keine zwei Wochen länger mehr durchgezogen!" sagte er sauer. Mein Arzt war überrascht von Marcos unüblichem Gefühlsausdruck: „Sie kann nicht weiter bestrahlt werden. Sie ist schwach, müde, ausgehungert - Bella, du leidest und jeden Tag schwindet ein Stück deiner Lebensfreude.". Ich konnte es nicht mehr hören. Diese Diskussion machte mich verrückt. Sie war Kräftezehrender als das Aufstehen aus dem Bett heute Morgen. „Herr Reus, zwei Wochen werden den Tumor nicht unermesslich weiter wachsen lassen. Acht Wochen wären insgesamt ein guter Richtwert für die weitere Diagnostik. Vielleicht schrumpft der Tumor und die Entfernung des Tumors wäre nicht mehr nötig.", „Nein. Kommt nicht in Frage. Der Tumor muss endlich raus, so lange er nicht streut.", „Er hat doch noch nicht gestreut und das wird er bestimmt auch in den nächsten Zwei Wochen nicht." murmelte ich kalt. Marco war baff. Er konnte die Situation kaum begreifen. Nervös fuhr er sich durch sein knallrotes Gesicht. „Bisher gibt es keine Anzeichen, dass er streuen wird." mischte sich der Doc ein. Angespannt biss ich mir auf die Unterlippe, während ich weiterhin ins leere vor mir starrte. Marco lehnte sich nach hinten in den Stuhl und hielt sich eine Hand über sein Gesicht, bevor er noch gänzlich die Fassung verlor und begann zu schreien. Diese Art von Stille machte mir jedoch mehr Angst, als wenn er einfach schreien würde. Ich seufzte: „Okay. Zwei Wochen probieren wir es noch. Dann können wir weiter sehen." entschied ich mich. Zwei Wochen länger jeden Tag hier her zu fahren würde mich nicht umbringen. Ich verabschiedete mich von meinem Arzt und ging Marco hinterher der bereits vor mir aus dem Behandlungsraum und der Klinik ging. Natürlich fand ich ihn auf dem Parkplatz. Er hatte sich an das Auto gelehnt, Arme vor der Brust verschränkt und nach oben schauend. Es kochte in ihm und er konnte - nein er wollte es nicht heraus lassen. „Los, schrei mich an." sagte ich leise und schaute eindringlich zu ihm hoch: „Es ist okay. Mach es." Ich nahm seine Hände in meine und platzierte einen Kuss auf seinem rechten Handrücken. Endlich schaute er zu mir herunter. Seine Augen spiegelten den Schmerz und die Wut wieder, die so sehr in seinem Herzen tobten, wie der Herbstwind die orangenen Blätter um uns durch die frische Luft wirbelte. „Nein" antwortete er leise und schüttelte den Kopf, während sich sein Kiefer gefährlich anspannte. „Marco, wenn der Tumor heraus operiert wird, dann kann ich vielleicht nie wieder schwanger werden. Ich würde so gerne eine vernünftige, friedliche und wunderschöne Schwangerschaft mit dir erleben. Ich kann diesen Kinderwunsch noch nicht aufgeben, vor allem nicht, wenn ich deinen Wunsch eine ganze Fußballmannschaft zuhause zu haben im Hinterkopf habe." Marco schaute mich verständnislos an und schüttelte wieder seinen Kopf: „Ich kann es nicht verstehen. Es geht einfach nicht. Ich höre immer nur ich, ich, ich. Du, Bella, du hast bereits eine Familie. Du hast Theo und mich und die Fußballmannschaft die ich mal haben wollte ist mir heute ganz egal. Wir brauchen dich. Gesund. Ich verstehe nicht wie dieses surreale Konstrukt einer Bilderbuchschwangerschaft dir so wichtig sein kann. Es tut mir leid, dass die Schwangerschaft mit Theo dich so leiden lassen hat, dass in den letzten Jahren zwischen uns alles kompliziert, anstrengend und lieblos war. Ich kann es nicht mehr ändern. Aber jetzt, jetzt sind wir beide ein Team. Wir haben einen Sohn, der seine Mutter braucht. Ich schaffe das nicht alleine, ohne dich und ich liebe dich so sehr, dass mich dein selbstzerstörerisches Verhalten fassungslos macht. Wie kann man so verfahren sein und nicht das schätzen, was man bereits hat?" Tränen liefen über seine Wangen, Wuttränen.
Das hat gesessen. Seine Worte gingen mir durch Mark und Bein.

Optimisten - Marco ReusWhere stories live. Discover now