Vorbilder

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Trigger Warnung: kurze Beschreibung häuslicher Gewalt. Tut mir leid, ich will's auch nicht gerne schreiben, aber ich denke, die Realität gehört einfach besprochen.

Ricks Hand zitterte, als er auf den Klingelknopf mit dem Namen 'Dearing' auf dem Schild drückte. Im Haus ertönte Lärm, Stimmen schrien, und gleich darauf wurde die Tür ruckartig aufgerissen, sodass Ricks Herz einen Satz machte und er beinahe vor Schreck die kleine Treppe vor der Haustür hinuntergepurzelt wäre.
„Was willst du denn schon wieder?" Eine starke Alkoholfahne wehte ihm ins Gesicht, als der Hüne mit der Bierflasche in der Hand vor ihm begann zu sprechen, und er bemühte sich krampfhaft, nicht angeekelt das Gesicht zu verziehen. Stattdessen zwang er sich zu einem Lächeln. „Ich möchte zu Al, Mister Dearing", sagte er höflich, obgleich ihm überhaupt nicht nach Höflichkeit war, sondern viel mehr nach ungezügelter Wut.
Jason Dearing knurrte wütend. „Gut, nimm das Balg halt mit, wenn dir so viel daran liegt", sagte er abfällig. Dann drehte er sich um, wobei er beinahe umgefallen wäre, und brüllte durchs Haus nach Al. Rick schrak zusammen.
„Ich bin hier, Dad", piepste es aus dem Halbdunkel im Haus. Rick konnte Al's dunkle Augen hinter seinem Vater glitzern sehen, und er konnte es kaum erwarten, ihn endlich da raus zu holen.
„Dein Freund holt dich ab, damit du aus der Bude verschwindest", sagte Jason. Er packte seinen Sohn grob im Nacken und stieß ihn hinaus zu Rick. Al ächzte auf und stolperte aus dem Hauseingang. Geistesgegenwärtig gelang es Rick ihn aufzufangen und zu verhindern, dass er zu Boden ging.
Rick musste sich beherrschen, um Jason nicht mit Blicken zu töten. Stattdessen nahm er sanft Al's Handgelenk und streichelte beruhigend über seine Haut. Al starrte mit Tränen in den Augen zu Boden unter dem glasigen, aber dennoch vernichtenden Blick seines betrunkenen Vaters.
Rick konnte sehen, wie Jasons Blick hinunter zu ihren Händen glitt. Schnell ließ er Al los. „Wir werden jetzt gehen, Mister Dearing", stieß er hervor. „Ich bringe Al heute Abend zurück."
„Macht, was ihr wollt, aber hört auf so herumzuschwuchteln", fuhr Jason ihn an. „Sonst brauchst du nicht mehr herzukommen!"
„In Ordnung, Mister Dearing", antwortete Rick kleinlaut. Ein scharfes Stechen fuhr durch seine Brust, und er bedeutete Al, ihm zu folgen.
Schnurstracks bahnten sich die beiden Jungen einen Weg durch den zugemüllten Vorgarten, und hinter ihnen hörten sie die Haustür zudonnern. Al zuckte erschrocken zusammen, und Rick hätte ihn gerne in den Arm genommen und ihm versichert, dass er nun sicher war, doch das ging natürlich nicht.

Als sie endlich außer Sichtweite des Hauses waren, begannen sie zu laufen und machten sich auf den Weg in den Wald. Sobald sie zwischen den Bäumen in der Natur verloren gingen, wurden sie langsamer, und Rick griff nach Al's Hand. Al blickte zu ihm auf, und Rick sah die Tränen aus seinen Augen quellen. Zerknirscht verzog er das Gesicht.
„Al, bitte wein nicht", hauchte er.
Al biss sich auf die Lippe und blickte zur Seite.
Rick seufzte auf. Er zog Al zu einem umgestürzten Baumstamm und ließ sich darauf nieder. Da er noch immer Al's Hand hielt, war dieser dazu gezwungen, sich neben ihn zu setzen. Dann schlang er die Arme um ihn und zog ihn dicht an sich.
„Alles wird gut, Al", wisperte er beruhigend. „Ich beschütze dich. Hier bist du sicher."
Al nickte stumm, und er hörte ihn leise weinen. Beruhigend strich er über sein dunkles, weiches Haar und teilte seine Körperwärme mit ihm.
„Rick, ich will nicht mehr zurück", schluchzte Al verzweifelt an seiner Schulter. „Ich will da weg! Aber bringt mich um, wenn ich weglaufe!"
„Wir kriegen das hin, Al, versprochen", sagte Rick. Er schob Al ein Stück von sich weg, um ihn richtig ansehen zu können. Sein fleckiges, verheultes Gesicht zerriss ihm das Herz. „Ich verspreche dir, dass wir eine Lösung finden. Dann brauchst du nie mehr Angst zu haben."
Al blickte zweifelnd zu ihm auf, doch dann nickte er langsam und schaute zu Boden. Rick umfasste vorsichtig sein Kinn und hob es an, damit er ihn ansah. Er liebte seine haselnussbraunen Augen, seine sommersprossige Haut und die weichen Lippen, die er so gerne lächeln sah.
Er liebte Al. Er liebte ihn so sehr.

Sanft wischte er die Tränen von Al's Wangen und drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. Al lief rot an und lächelte schüchtern. Sofort erwiderte er es und spürte sein Herz vor Freude rasen.
„Rot steht dir ganz gut", grinste er.
Al boxte ihm beleidigt gegen den Arm. „Halt die Klappe Rick", gab er frech zurück und grinste schelmisch.
„Ach, willst du keine Komplimente hören?", neckte Rick ihn. Al schaute ihn erstaunt an, doch er zog ihn wieder dicht an sich und vergrub das Gesicht in Al's Schulter.
„Ach, Rick", hörte er Al schließlich  seufzen, und der jüngere schmiegte sich ebenfalls an ihn.
Rick lächelte leise und lauschte dem rasenden Schlag seines Herzens. Er fragte sich, wann er sich wohl daran gewöhnen würde, Al anzusehen und in eine komplett neue Gefühlswelt hineingeworfen zu werden.

Sie saßen noch eine ganze Weile so da und redeten nur wenig. Doch sobald die Sonne begann, den Himmel golden zu färben, machten sie sich auf den Weg zurück in die Stadt. Rick nahm wieder Al's Hand, und der Junge schien endlich glücklicher, obgleich Rick ihn praktisch wieder der Hölle überlassen würde, doch er genoss die letzten Minuten, die sie noch zusammen hatten.
Am Ende des Waldweges, kurz bevor sie wieder die Straßen erreichen würden, stand eine Bank, die normalerweise um diese Zeit leer war, doch dieses Mal sah Rick zwei ältere Männer darauf sitzen. Instinktiv beschleunigte er seinen Schritt und packte Al's Hand fester. Al richtete den Blick gen Boden, während Rick misstrauisch die beiden Männer beobachtete.
Beide mussten schon etwa siebzig sein, und sie steckten in schicken hellblauen Anzügen mit roten Fliegen. Als sie näherkamen, merkte Rick, dass die beiden sich an den Händen hielten und sich so glücklich anlächelten, dass Rick automatisch langsamer wurde, um sie besser sehen zu können.
Irgendwie wusste er, dass diese beiden etwas besonderes waren. Die Art und Weise, wie sie sich ansahen, wie ihre Augen glitzerten und sie sich zueinander beugten, um sich zu küssen, alles sprach von treuer, wundervoller Liebe, der nichts entgegenzustehen schien.
Unwillkürlich huschte sein Blick zu Al, und auch dieser schaute ihn an. Er hatte gar nicht gemerkt, wie sie stehengeblieben waren, und alles, was er wahrnahm, war Al's Hand in seiner und diese dunklen Augen, die ihn so unschuldig und fragend anblickten.
Er löste den Blick wieder von Al und schaute zu den Männern vor ihnen auf der Bank.
„Rick?" Al drückte seine Hand, und er wandte sich wieder zu ihm um. „Hm?"
Al stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm zaghaft einen Kuss auf die Wange. „Danke für alles."
Ricks Herz setzte einen Schlag aus, und er lächelte breit. „Immer doch, Al."
Al lächelte ebenfalls, und dann gingen sie weiter. Als sie an dem Pärchen auf der Bank vorbeiliefen, trafen sich ihre Blicke, und die Männer grinsten sie an. Sie hielten ihre ineinander verschränkten Hände in die Höhe, wie ein leises Versprechen, und ohne groß zu überlegen taten sie es ihnen nach.

Nur du zählst...Where stories live. Discover now