Fourth

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Cedric ließ sich Zeit, als er langsam mit herunterhängendem Kopf über den Marktplatz schritt. Frustriert stopfte er die Hände in die Hosentaschen.
Er erinnerte sich nicht.
Am liebsten hätte er sich wütend die Haare gerauft. Allan erinnerte sich nicht an ihn! Wie zum Teufel hatte das bloß passieren können? Hatten sie sich nicht geschworen, Freunde zu bleiben, egal, was passierte?
Cedric schnaubte. Kindergeschwätz. Wahrscheinlich war es nicht von Bedeutung gewesen.
Und diese Erkenntnis schmerzte mehr, als er erwartet hatte.
Er erkannte Allans Auto sofort. Der Oldtimer stand perfekt in Reih und Glied mit drei anderen Autos neben dem Torbogen, und er war gepflegter als so mancher Leute Aussehen.
Langsam hielt Cedric darauf zu, seine Neugier war geweckt. Es war ein schönes Auto. Er hatte ein Faible für Oldtimer, seit er klein war, und sich schon immer solch ein Modell gewünscht. Leider fuhr er selbst bloß einen klobigen, alten BMW, dessen Farbe viel zu perfekt mit seiner Uniform harmonierte. Ein berühmt-berüchtigtes Merkmal in der Welt als Gesetzeshüter.
Cedric schloss den Kofferraum auf. Verwirrt bemerkte er, dass Allans Geruch ihm entgegenschlug, eine Mischung aus Aftershave, Haargel und etwas, das ihn nicht so aggressiv nach Kosmetikartikeln riechen ließ. Cedric lachte heiser. Worauf man sich alles konzentrierte, wenn der Verstand sich nur um eine Sache drehte.
Er schüttelte den Kopf und und hievte einen mittelgroßen Reisekoffer auf den Boden. Eine kleine Reisetasche lag in der Ecke im Kofferraum, und erst, als er sie herauszog, merkte er, dass sie nicht ganz verschlossen war. Irgendetwas Glänzendes fiel klirrend zu Boden, und er schrak zusammen.
„Verdammt!" Er hockte sich hin und tastete den Boden ab. Die Schnur einer Halskette schlich sich in sein Blickfeld, und er hob sie behutsam auf.
Mit klopfendem Herzen hielt er inne.
Allan hatte sie immer noch, die Kette, die er selbst auch noch besaß.
Es war ein kleiner, schwarz glänzender Stein in Form eines Flügels, der an der schwarzen Schnur vor sich hin baumelte.
Cedric seufzte wehmütig. Wie konnte er sich nicht mehr an ihn erinnern, wenn er doch noch die Kette besaß?

~

Allan hockte gerade am Boden und hob einen weiteren Papierstapel auf, als es laut an der Tür klopfte. Genauer gesagt klang es, als trete jemand mit dem Fuß gegen die Tür.
Er erhob sich hastig, und sofort wurde ihm schwindelig. Verdammt. Er taumelte halb blind von der Schwärze vor seinen Augen zur Tür und öffnete sie, die Hand an der Wand abgestützt.
Ein beigefarbener Schemen tauchte zwischen den schwarzen Flecken auf.
„Allan, ist alles in Ordnung?", hörte er Cedrics Stimme fragen.
Allan nickte leicht. Wahrscheinlich hatte er seinen leeren Blick bemerkt. „Es ist nur mein Herz", sagte er leise.
Eine warme Hand legte sich auf seine Schulter. Allans Herz setzte einen Schlag aus, und er blinzelte heftig.
„Willst du dich setzen?", fragte Cedric.
„Nein, es geht schon", winkte Allan ab. Seine Wangen glühten. Seine Sicht kehrte langsam zurück, und er sah Cedric direkt neben sich stehen, die Besorgnis stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Konnte sein Herz sich nicht einmal beruhigen?
Er brachte ein gequältes Lächeln zustande und tat einen tiefen Atemzug.
Cedric ließ langsam seine Schulter los. Die Stelle fühlte sich seltsam kalt an.
„Was genau ist denn mit deinem Herzen?", fragte Cedric mit einer Mischung aus Neugier und Sorge. Er stellte etwas neben ihnen auf dem Boden ab, und Allan merkte, dass es seine Reisetasche und der Koffer war.
Allan strich sich mit der Hand durch die Haare. Er merkte nicht, wie Cedric ihn beobachtete, denn er hatte sich längst wieder abgewandt. „Herzrhythmusstörung", antwortete er kurz angebunden. „Ich hatte einen Herzstillstand, nach diesem Vorfall, und seitdem arbeitet mein Herz nicht mehr wie vorher."
Cedric verzog zerknirscht das Gesicht. „Klingt nicht toll", meinte er, und als Allan zu ihm aufblickte, meinte er mehr als nur Mitleid in seinem Blick zu erkennen.
Pure Einbildung. Reiß dich zusammen.
Er nickte und zuckte die Schultern. „Ist wohl Schicksal", meinte er bloß und widmete sich wieder den Papierstapeln auf dem Boden.
Cedric verschränkte die Arme vor der Brust. „Ja, das Schicksal kann schon so einige verrückte Dinge tun", sagte er leise.
Allan zögerte. Er nickte stumm.
„Es sieht jetzt schon besser aus als vorher", wechselte Cedric das Thema. Er ließ seinen Blick durch das Büro schweifen. Der Boden war bereits größtenteils vom Papierkram befreit, und nun stapelte sich das Papier in ordentlichen Haufen auf den Schreibtischen und daneben.
„Ja, ich bin extrem ordentlich", lachte Allan. „Ich mag es nicht, wenn alles kreuz und quer herumliegt."
Ich weiß, dachte Cedric, doch er sagte es nicht. „Das sieht man." Er grinste gekonnt. „Ich bringe eben dein Gepäck auf dein Zimmer", meinte er dann, und Allan nickte dankbar.
Cedric stampfte mit seinem Gepäck die Treppe hinauf in den ersten Stock, und Allan starrte ihm hinterher. Cedric schien noch immer ziemlich kräftig zu sein, so wie damals.
Schnell wandte er den Blick ab und schüttelte den Kopf. Kinderkram. Warum interessierte er sich bloß noch dafür, wie Cedric aussah, wie er ihn anblickte, aus diesen hellblauen Augen, die wirkten wie eine eigene Welt und ihn jedes Mal tief hinabzogen in hunderte Erinnerungen...
Entnervt ächzte er auf und rieb sich über die Augen.
Warum machst du dir noch Gedanken darüber? Es ist sinnlos. Diese Zeiten sind vorbei.
Aus dem Augenwinkel erblickte er Cedric, der wieder im Büro erschien und scheuchte all diese lästigen Gedanken beiseite.
Cedric kam langsam auf ihn zu. „Kann ich dir bei irgendetwas behilflich sein?", wollte er wissen.
Allan wagte es nicht, in seine Augen zu blicken. Stattdessen deutete er auf die Papierstapel um sie herum. „Es wäre am einfachsten, wenn wir erstmal alles sortieren", meinte er. „Die Akten alphabetisch und am besten in der Nähe der Aktenschränke auf einen Stapel. Alles, was zur Post muss, auf den Schreibtisch und die restlichen Dokumente ebenfalls sortiert auf einen Stapel."
Cedric runzelte die Stirn. Er lachte heiser und rieb sich verlegen den Nacken. „Warum bin ich da bloß nicht drauf gekommen?"
Allan grinste leicht. „Dafür bin ich ja da."
Cedric nickte, und die beiden begannen, sich nach Allans Plan an die Arbeit zu machen. Sie schnappten sich beide einen großen Stapel Papierkram, setzten sich der Einfachheit halber auf den Boden und begannen, die Dokumente zu sortieren.

Während Allan ganz in seinem Element war, schien Cedric schon nach wenigen Minuten immer langweiliger zu werden.
„Also, Allan", sagte er irgendwann. „Wie war das Großstadtleben als Cop so?"
„Nicht immer so aufregend, wie du denkst", erwiderte Allan schmunzelnd. „Man gerät nicht nur in wilde Schießereien und Drogenrazzias, sondern auch in ein Meer aus Formularen und langweiliger Suche nach Kleinverbrechern."
„Genauso wie hier", meinte Cedric. „Heute morgen erst musste ich eine Schlägerei von sechs Halbstarken auflösen. Deswegen kam ich auch zu spät. Aber das sind schon fast die einzigen größeren Verbrechen, die in Josephina Hill passieren."
„Creasy erzählte schon davon, dass es hier weitaus ruhiger verlaufen wird." Allan nickte. Er legte einen Stapel Briefe zur Seite. „Was allerdings zu erwarten war."
Cedric lachte leise. Er schien kein Interesse mehr an dem Papierhaufen auf seinem Schoß zu haben und blickte Allan mit diesen hellblauen Augen an. „Und was war das mit dir?", sagte er schließlich. „Also, wenn ich fragen darf."
Allan fuhr sich verlegen mit der Hand durch die Haare. Er seufzte. „Ein bewaffneter Raubüberfall", antwortete er. „Der Täter floh, und zwei meiner Kollegen und ich verfolgten ihn. Es ging über einen verschneiten, rutschigen Supermarktparkplatz, und ich war ihm am nächsten. Er schoss auf mich. Unerfreulicherweise traf er nicht die kugelsichere Weste, sondern mich in die Seite. Sam, mein Kollege, kümmerte sich um mich. Ohne ihn wäre ich verblutet oder erfroren." Er zuckte die Schultern. Seine Finger spielten geistesabwesend mit der Haarsträhne in seiner Stirn. „Das ganze endete damit, dass ich einen Herzstillstand erlitt und die Sanitäter mich reanimieren mussten. Trotzdem landete ich im Koma und wachte erst zwei Wochen später wieder auf."
„Das tut mir leid", sagte Cedric mitfühlend.
Allan lächelte leicht und zuckte gleichgültig die Schultern. „Wie gesagt, Schicksal."
Cedric nickte stumm und musterte ihn eine Weile. Allan wandte den Blick ab und arbeitete sich weiter durch den Papierstapel auf seinem Schoß.
„Und was passierte mit dem Täter?", fragte er schließlich.
Allan erinnerte sich genau an das Bild, das ihm nach seinem Koma auf ebendiese Frage gezeigt wurde. „Erschossen", antwortete er. „Joshua, der andere Kollege, geriet in eine Schießerei mit ihm und traf ihn schließlich tödlich. Er starb, bevor die Sanitäter ankamen. Glatter Durchschuss." Er lachte leise, und es war kein freudiges Lachen. Ihre Blicke trafen sich. „Das war tatsächlich so eine Hollywoodfilm-Schießerei", sagte Allan. Er fuhr sich schon wieder mit der Hand durch die Haare, und diesmal bemerkte er Cedrics Blick.
„Nun, er war ein Verbrecher", meinte Cedric schließlich. Sein Blick huschte zurück zu Allans Augen. „Dem Schicksal warst du wohl wichtiger."
„Mag sein", erwiderte Allan. Er wandte den Blick ab und blätterte lustlos durch die Papiere auf seinem Schoß. „Aber ich hätte auch mein Leben gelassen, wenn ich sicher gewesen wäre, dass dafür ein Verbrecher festgenommen wird."
„Das zählt doch überhaupt nicht", sagte Cedric mit hochgezogener Braue.
Verdutzt blickte Allan auf. „Wie meinst du das?"
„Wenn du gestorben wärst, könntest du keine weiteren Verbrecher mehr festnehmen", erklärte Cedric. „Außerdem hätte dich sicherlich jemand vermisst."
Allan wandte den Blick ab. Er wusste nicht, wie viel er aus dieser Aussage verwerten sollte. „Er hatte Frau und Kinder. Die werden ihn sicherlich auch vermissen."
„Manchmal spielt das Leben eben unfair", meinte Cedric leise. „Ob für Schuldige oder Unschuldige. Was zählt, ist, dass wir die Chance nutzen und am Ende was draus machen. Sonst würden wir alle bloß daherleben und nichts lernen."

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