Abschied

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Rick hörte unterbewusst die ganzen Blätter und Äste hinter sich knacken, als jemand angeschlichen kam, aber er war so tief in seinen dunklen Gedanken eingesponnen, dass er es nicht richtig mitbekam. Nicht mal, als jemand seinen Namen wisperte, reagierte er.
Erst, als er plötzlich eine Hand auf seiner Schulter spürte, schrak er heftig zusammen und drehte sich abrupt um. Der Schrei blieb ihm in der Kehle stecken, als er sah, wer vor ihm stand, und er riss die Augen auf.
„Al?!"
Der Junge nickte stumm. Rick starrte ihn unverblümt an, wie er dastand, mit dreckigen Klamotten, tiefen Ringen unter den Augen, und der gekrümmten Körperhaltung. Sofort packte er Al, ohne gross darüber nachzudenken, und zog ihn zu sich hinunter ins Gras der Lichtung, auf der er den ganzen Tag bereits Trübsal blies.
Al gab einen erstickten Laut von sich, als er neben ihm auf die Erde plumpste. Verblüffenderweise ließ er aber die feste Umarmung zu, in welche Rick ihn zog. Allerdings hatte er nicht die Kraft, ebenfalls die Arme um ihn zu schlingen.
„Was zum Teufel ist passiert, Al?" Rick redete nicht lange um den heißen Brei herum. Er wusste, dass etwas schlimmes geschehen sein musste, denn sonst wäre Al nicht ganze vier Tage der Schule fern geblieben und würde nun so zerstört aussehen.
„Nichts", murmelte Al bloß und starrte auf Ricks sauberes Hemd. Er war den Tränen nahe, er wusste dass er sich nicht vor ihm verstecken konnte, und doch tat er es.
„Al." Ricks Stimme zitterte leicht vor Sorge und klang doch so ernst. Er drückte den Jungen leicht von sich, um ihn anzusehen. „Jetzt sah schon. Bitte."
Al versuchte es mit einem Kopfschütteln, doch er war so verzweifelt, dass er die Tränen nicht länger zurückhalten konnte. Er begann leise zu schluchzen und gab unverständliche Worte von sich.
Rick seufzte leise und beugte sich vor, um Al einen Kuss auf die Stirn zu hauchen. Obwohl Al das letzte Mal so abweisend gewesen war, wusste er, dass er nun Zuneigung, eine Stütze brauchte.
Sanft griff Rick nach Als Arm und schob den Hemdärmel ein Stück nach oben. Er sah die blauen Flecken in Form einer sehr großen Hand, ebenso auf dem anderen Arm. Mittlerweile hatte Al aufgehört zu weinen und beobachtete ihn einfach nur verängstigt. „Das... er.."
„Ist er zu weit gegangen?", raunte Rick, ohne den Blick von den Blessuren zu nehmen.
Al schüttelte so vehement den Kopf, dass Rick sich nicht sicher war, ob er log oder die Wahrheit sprach, aber er wusste, dass Al nun nichts mehr dazu sagen würde.
„Ist es noch mehr?", fragte er stattdessen und blickte ihn besorgt an. Al biss sich auf die Lippe und nickte kaum merklich. Er ließ sich von Rick ein paar Tränen aus dem Gesicht wischen.
Rick streckte die Hände nach Als Oberkörper aus, um ihn vorsichtig abzutasten. Al zuckte zusammen und verzog das Gesicht.
„Geprellt", presste er zerknirscht hervor.
„Die Rippen?", hakte Rick nach und zog die Brauen zusammen.
„Vier Stück." Al nickte.
Rick wusste nicht wirklich, was er sagen sollte. Irgendwas in seinem Freund hatte sich verändert, irgendetwas war kaputt gegangen. Al wirkte verbittert, wütend, nicht nur mehr ängstlich. Diese Seite an ihm kannte er nicht, und es überforderte ihn, weil er nicht damit umzugehen wusste.
„Rick?"
Der Blonde hob den Blick. „Ja?"
„Ich..." Al biss sich auf die Lippe, holte tief, zittrig Luft. „Ich werde weggehen. Heute noch."
„W-was?", stammelte Rick überrumpelt. „Meinst du, du haust ab? Das kannst du doch nicht machen, ohne mich mitzu–"
„Ich haue nicht ab", unterbrach ihn Al mit gebrochener Stimme und schaute weg. Abermals schwammen Tränen in seinen dunklen Augen. „Mein Vater will hier weg. Er... er weiß nun, dass ich, ähm.." Verlegen strich er sich durch die Haare und räusperte sich. „Dass ich Jungen mag", wisperte er schließlich mit hochroten Wangen.
Rick runzelte die Stirn. Sein Herz pochte laut in seiner Brust.
Er wollte, dass Al nur ihn mochte.
„Al, wir wissen doch, dass er homophob ist", begann er und legte eine Hand auf das Knie seines Freundes. „Und du weißt, dass wir das zusammen durchstehen werden..."
Heftig schüttelte Al den Kopf, nun brachen regelrechte Sturzbäche an Tränen über sein blasses Gesicht. „Nein, nein nein", schluchzte er verzweifelt. „Er.. er weiß von uns. Er weiß dass du mich letztens geküsst hast. Einer der anderen Schüler hat es gesehen und ihm davon erzählt." Rick sah Al entsetzt zu, wie er weiter panisch über seine Worte stolperte und immer heftiger zu zittern begann, bis auch sein Körper sich der Panik anschloss.
„D-der Junge sagte, wir seien ein Paar und dass du mich.. z-z D-Dingen ü-ü-über-re-re–" Als Stottern brach in ein Würgen, und dann in hyperventilieren über. Sofort zog Rick ihn zu sich, zwischen seine Beine, und übte Druck mit seiner Umarmung auf ihn aus. Er legte eine Hand über Als Mund, damit er nicht mehr übermäßig Sauerstoff dadurch aufschnappte. Al atmete abgehackt, aber kontrollierter, und kugelte sich in Ricks Armen ein. Seicht streichelte Rick über sein dunkles, verfilztes Haar und summte beruhigend vor sich hin.
„Er erzählte, wir würden offen in der Schule unsere Homosexualität zeigen und wie schwul wir seien", wisperte Al zitternd vor sich hin, seine Stimme kaum lauter als ein Windhauch. „Wir würden immer Händchen halten und rumknutschen. Man müsse uns ein für alle Mal voneinander trennen, um dem ein Ende zu setzen."
„Deshalb warst du nicht in der Schule", murmelte Rick betroffen. Nun kämpfte auch er gegen die Tränen.
„Mein Vater sagte, wenn wir nicht wegzögen, würde er.. du weißt schon."
Rick schluckte. Er wusste, was Al meinte, zu oft hatte er es bereits mitbekommen. Sein Vater würde ihn verschwinden lassen, es wie einen Unfall aussehen lassen. Er würde ohnehin durchkommen, schließlich standen seine Kollegen allesamt auf seiner Seite. Noch einmal konnten sie also nicht zur Polizei gehen.
„Al, lass uns gemeinsam abhauen", hauchte er brüchig und legte die Wange auf dessen Haar ab. „Ich kann nicht ohne dich. Ich will nicht, dass du fortgehst."
„Das schaffen wir nicht", erwiderte Al. „Ich bin krank, und Vater wird uns suchen lassen. Wir werden nicht schnell genug fort sein, und vor allem, wo gehen wir hin? Wir sind Teenager, wir haben kein Geld und keine Bleibe. Wir würden auf der Straße sterben."
„Dann verstecke ich dich bei uns im Haus", schlug Rick verzweifelt vor. Er konnte ihn nicht so einfach gehen lassen. Das war sein sicherer Tod, so oder so. „Grams würde uns sicherlich helfen."
Al schüttelte den Kopf. Er löste sich leicht, um ihn traurig anzulächeln. „Nein, ist schon gut, Ricky. Ich will dich nicht auch noch mehr in Gefahr bringen. Ich bin froh, dass er dir noch nicht über den Weg gelaufen ist. Ich werde einfach mitgehen, ich überlebe das schon. Und ich verspreche, irgendwann werde ich zu dir zurückkommen."
„Al, nein. Bitte, lass es uns versuchen. Du kannst dich nicht schon jetzt von mir trennen." Weinend umfasste Rick sein Gesicht und starrte in diese süßen, dunklen Augen, die ihn gebrochen anblickten. Er suchte nach einem Anzeichen von Hoffnung in ihnen, doch er wusste, Al würde seinen Dickkopf durchsetzen und gehen. Er würde sich dem Willen seines verdammten Vaters beugen, um ihn zu schützen, dabei war doch Al in größter Gefahr, wenn er mitging.
„Bitte tu es nicht", flehte er erneut, doch Al lächelte bloß entschuldigend. „Es tut mir leid, Cedric."
Rick zuckte zusammen. Das war das erste Mal, dass er seinen ganzen Namen aus Als Mund hörte. Etwas brach in ihm, wovon er niemals geglaubt hatte, dass es in Als Begleitung brechen könnte. „Al, nein..."
Al legte nun auch die Hände an seine Wangen und näherte sich ihm. Er platzierte federleicht die Lippen auf seinen, und Rick wusste, dass dies ein letzter Kuss sein würde, bevor er
den Jungen, den er liebte, verlor. Und so bog er sich ihm entgegen, küsste ihn verzweifelt, mit solch einer brennenden Liebe, wie sie ungewöhnlich für solch noch junge Teenager war.
Al musste sich regelrecht losreißen, um den Kuss zwischen ihnen zu lösen. „Auf Wiedersehen, Ricky", schluchzte er, noch immer trug er ein zittriges Lächeln auf den roten Lippen.
„Al", rief Rick, doch Al rannte bereits davon.
„Al!"
Seine Brust stand lichterloh in Flammen, als er  vor lauter Schmerz brüllte.
„Allan!"

Nur du zählst...Where stories live. Discover now