Blicke

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„Rick! Warte doch einmal!"
Rick lachte laut, der Wind pfiff ihm um die Ohren, und er schnitt seinem langsameren Freund über die Schulter eine Grimasse zu.
Al zog ebenfalls eine Fratze und versuchte, ihn einzuholen, doch Rick war um einiges schneller als der Jüngere. Rick sprang über einen umgestürzten Baumstamm und blickte nach hinten. Al wurde langsamer und kletterte unbeholfen über den Baum. Rick blieb stehen und lachte ihn aus.
„Du wirst schon sehen, Rick, ich krieg dich", rief Al ihm zu.
„Das denke ich nicht", erwiderte Rick neckisch.
Al stolperte auf ihn zu, und Rick begann wieder zu rennen. Die beiden Freunde jagten lachend und rufend durch den Wald, auf dem Weg zu ihrem geheimen Lieblingsplatz. Ihre Füße trommelten über die hügelige Erde und verscheuchten die Kreaturen der Natur.
Rick hörte Al näher kommen und versuchte, schneller zu laufen, doch er hatte kaum noch Kraft. Al war derjenige mit der Ausdauer, er war bloß der schnellere Läufer.
Rick rannte auf die Lichtung zu, während Al weiter zu ihm aufholte. Plötzlich spürte er eine Hand in seinem Rücken, und ehe die beiden sich es versahen, stolperten sie und kugelten übereinander. Rick lachte erschrocken auf, und sie rollten über hohes Gras.
Lachend blieben sie liegen, ihre Arme und Beine ein undefiniertes Knäuel.
„Rick, mach dich vom Acker", lachte Al und versuchte, ihn wegzuschieben.
„Hättest du wohl gerne", erwiderte Rick. Er nahm Al in den Schwitzkasten, und die beiden rauften sich lachend.
„Rick! Ich gebe auf!", rief Al schon bald. Rick grinste und ließ ihn los. „Siehst du, ich bin immer noch stärker als du", provozierte er ihn.
Al schüttelte heftig den Kopf und blinzelte in die Sonne. Sein dunkler Haarschopf tauchte neben ihm im hohen Gras auf. Die beiden atmeten heftig nach ihrem Spurt und der Rauferei. Ihre Klamotten waren grün vom Gras und braun von der Erde, und ihre Gesichter rot vor Anstrengung.
Hat es dir schon die Sprache verschlagen?", fragte Rick grinsend und knuffte den Jüngeren.
Al schüttelte den Kopf und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Ich will nur die Zeit genießen, wenn ich dein Gelaber nicht aushalten muss", konterte er grinsend.
„Du Idiot", knurrte Rick und zog eine Grimasse.
Al drehte sich auf die Seite, und seine dunklen Augen leuchteten. „Rick, findest du nicht auch, dass es hier viel schöner ist, wenn man der Natur lauschen kann?", fragte er aufgeregt.
Rick runzelte überrascht die Stirn. „Stimmt schon", meinte er. Auch er drehte sich auf die Seite, und sie starrten sich eine Weile lang an.
„Lass uns das doch eine Weile lang tun", sagte Al leise.
„Der Natur laschen?"
„Ja."
Rick nickte und verbarg seine Verwirrung. Die beiden schauten sich an, angestrengt, nicht abermals loszulachen. Die langen Grashalme wiegten sich sanft im Wind und kitzelten ihre Gesichter. Eine Libelle schwirrte dicht über sie hinweg, und ihre Blicke huschten flüchtig zu ihrer herumflitzenden Silhouette.
Al spielte geistesabwesend mit einer dunklen Haarsträhne, die ihm in die Stirn gefallen war, und Rick beobachtete ihn stumm. Al schien es zu merken, und seine Wangen röteten sich, als sich ihre Blicke trafen.
Rick streckte unwillkürlich die Hand aus und umfasste vorsichtig Al's Handgelenk. Al schaute ihn verwirrt an.
Sofort ließ er ihn los, und ihre Hände sanken zwischen ihnen ins Gras.
Rick fragte sich, woran Al wohl dachte oder ob er überhaupt an etwas dachte. Er selbst musterte Al's Gesicht genau und prägte sich jedes Merkmal darin ein. Er wusste nicht, warum, doch irgendwie erschien es ihm wichtig.

Auch Al beobachtete Rick genau. Die hellblauen Augen seines Freundes zogen ihn tief hinab in eine Welt, die hinter all diesem Schein verborgen lag. Er prägte sich die Farbe dieser Augen genau ein, denn er wollte nicht, dass er diese Welt in ihnen vergaß, falls sie sich je verlieren würden.
Rick schaute zurück in Al's Augen, und wie zufällig streifte er seine Finger. Rick's Herz raste, und Al atmete tief ein und aus.
Rick schlug die Augen nieder. Sein Blick wanderte zu ihren Händen. Er griff zaghaft nach Al's Hand und bedeutete ihm, die Finger zu spreizen. Al tat neugierig, was er verlangte, und Rick legte seine Handfläche auf die Al's. Seine Hand war ein paar Zentimeter größer, schließlich war er auch schon vierzehn und Al noch zwölf.
Rick verspürte den seltsamen Drang, ihre Finger ineinander zu verschränken, und sein Herz klopfte ihm bis zum Hals, als er es tat. Al blickte zu ihm auf, und Rick fragte sich, ob er genauso verwirrt war wie er.
Al lächelte ihn an. War sein Lächeln schon immer so schüchtern gewesen? Er wusste es nicht, doch Rick erwiderte es ohne mit der Wimper zu zucken. Was zählten solche Fragen schon, wenn er doch glücklich war, mit seinem besten Freund an ihrem geheimen Lieblingsplatz, mit der Stille der Natur, die ihnen mit bloßen Blicken Frieden in dieser ungerechten Welt versprach?

Nur du zählst...Where stories live. Discover now