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Nervös blickte Al um sich.
Es war schon spät abends, die Sonne war längst untergegangen, die Straßen seines kleinen Dorfes leergefegt wie die einer Geisterstadt. Und wie ein kleiner, dürrer Geist huschte er durch den Hintergarten seines Grundstücks und schlug sich durch die Büsche in den Wald.
Er hatte Glück, dass er schon mehrmals nachts, blind durch den Wald gelaufen war, um von zuhause abzuhauen. So kannte er seinen Weg auswendig wie seine Westentasche und wich Stolperfallen gekonnt aus. Er wusste genau, wie er laufen musste, um nicht entdeckt zu werden.
Schließlich kam er im nordöstlichen Teil des Waldes an, an dessen Grenze zum Nachbardorf eine mondbeschienene Lichtung auf ihn wartete. Er blinzelte in das spärliche Licht und wurde langsamer. Noch war er allein. Sein Herz zersprang ihm zwischen den Rippen vor Aufregung.
Er hatte Rick seit Tagen nicht mehr gesehen. Nachdem sein Vater herausgefunden hatte, dass er in der Schule verprügelt worden war und sich nicht selbst verteidigt hatte, war er in seinem Zimmer eingesperrt gewesen und hatte sich den Zorn seines Vaters antun müssen. Er hatte ihm gedroht, ihn für immer in seinem Zimmer einzusperren, wenn er weiterhin diesen Jungen — Rick — ohne seine Erlaubnis sehen würde. Al hatte es mit der Angst zu tun bekommen und sich eingeschüchtert von selbst in der hintersten Ecke seines Zimmers verkrochen. Nicht einmal etwas gegessen oder getrunken hatte er. Und vor allem mit dem Gedanken gespielt, Rick nicht mehr wiederzusehen, um ihn zu schützen.
Bis er in der letzten Nacht gehört hatte, wie jemand Kieselsteine an sein Fenster warf und er es einen Spalt breit geöffnet bekommen hatte, nur, um mit einem gut gezielten Wurf einen großen Stein mit einer Nachricht hereinzulassen. Er hatte Ricks Handschrift sofort erkannt. In der Nachricht stand die Bitte, ihn zu treffen, an der großen Lichtung im Nordosten, unweit von Ricks zuhause. In der Nacht, wenn alle schliefen und Al unbekümmert aus dem Haus schleichen konnte.
Eine Hand legte sich urplötzlich auf seine Schulter, und gleich darauf auf seinen Mund, als er ihn zum Schreien öffnete.
„Al, ich bin's nur", hörte er da Ricks Stimme in sein Ohr raunen. „Beruhige dich."
Rick ließ ihn los, und noch immer geschockt wandte Al sich zu ihm um. Rick blickte ihn mit besorgt hochgezogenen Brauen an. „Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken."
Al atmete einmal tief durch, nickte langsam. „Schon gut." Zögerlich trat er auf ihn zu, ließ sich von Rick in eine Umarmung ziehen. Mit einem leisen Seufzer schloss er die Augen und schmiegte sich an ihn. „Was wolltest du, Rick?"
Sein Freund lachte leise, aber nicht wirklich amüsiert auf. „Was ich wollte? Wirklich?" Er schob Al ein Stück von sich, damit er ihn mustern konnte. „Wissen, ob du noch lebst, mein Lieber. Ich habe mir ernsthaft Sorgen um dich gemacht." Zärtlich strich er Al über die Wange und jagte ihm damit eine Gänsehaut über die Arme. „Was ist passiert, Al? Hat dein Vater—"
„Ich war nur krank", sagte Al schnell. Eine Lüge. Er lächelte schwach. „Ich habe mich erkältet und musste mich auskurieren."
Irritiert blickte Rick ihn an. „Oh. Tut mir leid, ich dachte—"
Al drückte seinen Arm um ihn zu unterbrechen. „Ist nicht schlimm. Du musst dir wirklich keine Sorgen um mich machen."
Zweifelnd zog Rick die Brauen zusammen. Am liebsten wäre Al bei diesen Augen und dem Griff um deiner Hüfte eingeknickt und hätte ihm die Wahrheit gesagt, doch er hatte viel mehr Angst vor seinem Vater als davor, Rick anzulügen.
Jener ließ ein Seufzen hören. „Na schön", sagte er, „ich bin froh, wenn ich mir keine Sorgen um dich machen muss. Kommst du mit?"
Al ließ es zu, dass Rick nach seiner Hand griff, und folgte ihm zum Rande der Lichtung. Zusammen ließen sie sich ins weiche Gras und Moos nieder. Rick legte einen Arm um ihn und zog ihn dichter an sich.
Al musste sich zusammenreißen, um nicht zurückzuweichen. Er hatte Rick vermisst, seine Umarmungen, seine Stimme, wie er sich um ihn kümmerte. Alles an ihm. Er hatte sich nichts sehnlicher gewünscht, als wieder in seinen Armen zu sein.
Und doch wollte er ihn am liebsten gerade von sich stoßen und weglaufen.
„Hey Al?" Vorsichtig blickte Al zu Rick auf, welcher ihn zu beobachten schien. „Mhm?"
„Ich, ähm, wollte mit dir reden." Rick räusperte sich, plötzlich unsicher. Überrascht lüpfte Al die Brauen. Wann erlebte er Rick schon unsicher?
„Worüber?"
„Über... uns." Er strich zaghaft mit einem Finger über Als Wange. Al wurde schlagartig abwechselnd heiß und kalt. Nervös strich er sich durch die Haare, löste sich dabei etwas von Rick. Abstand. Damit ihm das Herz nicht weiter in die Hose rutschte. „Was meinst du?"
Als Blick klebte sich an die Hand, die Rick ihm vorsichtig aufs Bein legte. „Das, was du gesagt hast, als wir uns das letzte Mal gesehen haben", erklärte Rick geradeheraus. „Dass du mich gernhast..."
„N-natürlich habe ich dich gern", nuschelte Al. Er wandte den Blick ab. Oh Gott. Wie würde er Rick schützen können, wenn er ihm den Kopf so sehr verdrehte, dass er nicht mal mehr klar denken konnte?
„Ich meine—", begann Rick, doch Als Mund war schneller als seine Gedanken.
„Das war ein Fehler."
„Was?" Augenblicklich ließ Rick ihn los. Als Bein fühlte sich seltsam kalt an. Alles an ihm schien kalt zu werden, nahezu zu gefrieren. Fröstelnd schlang er die Arme so fest er konnte um sich selbst. Er nickte stur. „Es tut mir leid, Rick. Ich kann das nicht nicht. Ich glaube, ich habe mich geirrt."
„Aber... Al" Rick schluckte schwer. „Warum sagst du sowas?"
Al warf ihm einen Blick zu, von dem er erhoffte, dass er ernst genug war, um Rick zu überzeugen. „Weil es die Wahrheit ist. Es tut mir wirklich leid..."
Zerknirscht wandte Rick den Blick ab, sagte aber nichts. Gottverdammt, Al konnte ihn so doch nicht einfach sitzen lassen. Zaghaft tastete er nach seinem Arm, drehte ihn an der Schulter wieder zu sich. Sie blickten sich an, beide zweifelnd, mit der Stille, welche gespenstisch zwischen ihnen hing und sie scheinbar auseinander drängen wollte. Wie alles in Als Leben.
Dabei wollte er doch nur glücklich sein.
Mit Rick.
Am liebsten hätte er sich vorgebeugt, Rick noch einmal geküsst, ihn umarmt, nie wieder losgelassen. Doch seine Angst übermannte ihn ein weiteres Mal. Ohne ein Wort ließ er die Hand sinken, wich zurück und stand holprig auf. Rick starrte ihm hinterher wie paralysiert, unfähig, auch nur eine Bewegung zu tun. Er blinzelte nicht einmal. Al sah den glänzenden Film über Ricks Augen, wie Wellen im Sturm über die See niederkrachen und das Licht mit sich reißen. Wie sie ihn auch noch mitnahmen und in die Tiefe zogen. Gedankenverloren schüttelte Al den Kopf, eine einzige, abgehackte Bewegung seines tauben Körpers. Er sah die Hoffnung in Ricks Augen zergehen.
Dann wandte er sich ab und stolperte halbblind durch das Gestrüpp und ließ Rick auf der Lichtung sitzen. Fast hoffte er, dass Rick ihm hinterherlief.
Doch nicht einmal sein eigener Schatten schien ihn mehr begleiten zu wollen.

Nur du zählst...Where stories live. Discover now