Hände

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„Komm schon, Al, du schaffst das!"
Al schüttelte heftig den Kopf. Sein Blick lag mit weit aufgerissenen Augen vor ihm auf dem Baumstamm, der über den Fluss im Wald führte. Auf jenem Baum stand Rick, leichtfüßig, mit aufmunterndem Grinsen.
Verzweifelt blickte Al zu Rick auf. „Bitte, Rick", flehte er. „Ich kann das nicht. Ich habe Angst."
Rick trat einen Schritt zu ihm vor, und Al starrte ihn angsterfüllt an. Was, wenn Rick jetzt fiel und in die unbändigen Ströme des Flusses gerissen wurde?
„Al, ich bin da. Du brauchst keine Angst zu haben", sagte Rick sanft. „Komm mit mir, es ist wunderschön dort hinten. Das musst du dir wirklich ansehen!"
Der jüngere schüttelte abermals seinen Kopf. Er schlang die Arme schützend um sich selbst und biss sich auf die Lippe. Tränen schimmerten in seinen dunklen Augen.
„Al, schau mich an", bat Rick leise.
Zögernd blickte Al auf und fand sich im hellblauen Blick Rick's wieder.
„Kommst du mit, wenn ich dich führe?", fragte er lächelnd.
„Was meinst du?", fragte Al neugierig, vergaß seine Furcht für einen kurzen Moment.
Rick streckte seine Hand aus und hielt sie ihm hin. „Ich werde dich führen, wenn du möchtest. Du musst nur meine Hand nehmen. Ich verspreche dir, dass ich auf keinen Fall loslassen werde."
Al zögerte. Er wusste genau, dass er Rick vertrauen konnte, doch war er sich sicher, dass nichts passieren würde?
„Du musst nicht", fügte Rick sanft hinzu. „Ich möchte dir nur die Lichtung zeigen, wenn du willst. Es ist wunderschön dort."
„In Ordnung", murmelte Al schüchtern. Die Aussicht, mit Rick an einem so schönem Ort zu sein, dass dieser davon schwärmte, verzauberte ihn auf seltsame Art und Weise, und er war gewillt, jedes Risiko mit ihm einzugehen.
Rick hielt ihm noch immer lächelnd die Hand hin. Kurzerhand ergriff er sie, bevor er es sich anders überlegen konnte. Ricks Augen leuchteten, und ein leises Lächeln legte sich auf Al's Lippen.
„Aber lass nicht los", sagte Al schnell.
Sein Freund schüttelte den Kopf. „Niemals."

Al lachte leise. Er folgte Rick auf den Baumstamm, und zusammen überquerten sie den Fluss. Rick lief kühn rückwärts, den Blick unentwegt auf Al gerichtet, als hätte er nie etwas anderes gemacht. Al setzte zaghaft einen Fuß vor den anderen. Das Rauschen des Wassers ummantelte sie wie ein Netz und begleitete sie auf die andere Seite. Seine Farbe erinnerte Al stark an Ricks Augen.
„Siehst du, es war doch gar nicht so schlimm", sagte Rick schließlich sanft, als sie endlich auf der anderen Seite angekommen waren.
„Doch, es war grauenvoll", maulte Al. „Ohne dich hätte ich es nicht geschafft."
Rick lachte leise. „Ich bin mit sicher, dass du es auch ohne mich geschafft hättest. Du bist doch so mutig." Er zog Al näher zu sich ran, bis kaum mehr ein Blatt Papier zwischen sie gepasst hätte, und schaute auf den dreizehnjährigen hinab. Al schaute ihn in einer Mischung aus Neugier und Verwirrung an. Ihre Hände lagen noch immer fest ineinander, und Al spürte Ricks warmen Atem auf seiner Wange. Ein wohliger Schauder durchfuhr ihn.
„Willst du jetzt die Lichtung sehen?", flüsterte Rick lächelnd. Al lief rot an und nickte schnell. Rick drehte sich herum und zog ihn sanft an der Hand hinter sich her. Ihre Schritte vermochten auf der weichen Erde kaum Geräusche zu machen, und sie lauschten schweigend den Stimmen der Natur.
Rick führte ihn einige hundert Meter durch den Wald, bis sie langsam zu besagter Lichtung kamen. Der Weg wurde breiter, bis er sich im Gras verlor, und vor ihnen erstreckte sich eine wunderschöne, sonnige Graslandschaft, die sich ein wenig von der sonst so flachen Gegend abhob. Staunend schaute Al sich um, den Mund vor Bewunderung weit geöffnet.
Rick drückte seine Hand. Die beiden schauten sich an. „Und, gefällt es dir?", fragte Rick lächelnd.
„Ja", hauchte Al strahlend. „Du hattest recht, es ist wunderschön hier."
„Noch schöner wird es, wenn die Sonne endlich untergeht", meinte Rick. Ein Grinsen bildete sich auf seinen Lippen, und Al erwiderte es.
Rick zog ihn ein Stück weiter. Er ließ sich im Gras nieder, und da er noch immer seine Hand hielt, musste Al ihm folgen. Er setzte sich dicht neben ihn, und die beiden Jungen blickten der Sonne entgegen.
„Bald geht sie unter", meinte Rick. „Dann taucht sie den Wald in ein Farbenspiel, das du dir nicht vorstellen kannst. Das musst du gesehen haben, um es zu glauben!"
Al lachte auf. Rick blickte ihn lächelnd an, und er lächelte freudig zurück. Er verlor sich nur zu gerne in Ricks hellblauen Augen, die ihn tief in ihre eigene, wunderschöne Welt hinabführten.
Ricks Hand löste sich aus der seinen und legte sich stattdessen zaghaft auf sein Knie. Al spürte, wie er rot wurde und wandte schüchtern den Blick ab. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und fragte sich, ob Rick das Kribbeln unter seiner Haut wohl ebenfalls fühlen konnte.

Die Zeit verging, und sie blickten schweigend durch die Gegend. Irgendwann legte Rick den Arm um Al und zog ihn dichter an sich. Al ließ es geschehen und spürte sein Herz schneller schlagen. Er nahm all seinen Mut zusammen und legte den Kopf zaghaft auf Ricks Schulter. Aus irgendeinem Grund wusste er, dass Rick lächelte, und auch seine Mundwinkel hoben sich.
Rick legte vorsichtig den Kopf auf dem seinen ab. Al schloss die Augen und genoss seine Berührungen. Er hatte nie gedacht, dass es Berührungen gab, die ihm kein bisschen wehtun wurden, die ihn glücklich und sorgenfrei stimmten und ihn von allem Schmerz dieser Welt befreiten.
„Al, schau hin!" Ricks Stimme brachte ihn zurück in die Realität, und er schlug die Augen auf. Rick zeigte mit dem Finger in die Ferne. „Siehst du, die Sonne geht unter", sagte er ehrfürchtig.
Al blickte staunend in tiefdunkles Rot, leuchtendes Gold, intensives Orange, helles Violett, sanftes Rosa und freundliches Gelb, eine Harmonie der schönsten Farben, die Al je gesehen hatte.
Nein, das stimmte gar nicht. Es gab etwas viel Schöneres als das.
Er hob den Blick und schaute zu Rick auf. Rick spürte es und sah ihn fragend an. „Was ist denn?", lächelte er leise.
Al's Wangen glühten. „Der Sonnenuntergang ist längst nicht so schön wie–" Er stockte, plötzlich von Zweifeln erstickt und presste bedrückt die Lippen aufeinander.
„Al." Rick nahm sanft sein Kinn zwischen die Finger und hob es an, sodass er zu ihm aufschauen musste. „Wie was?"
Nervös fuhr Al sich durch die Haare. „Nichts, schon in Ordnung", brachte er traurig hervor.
„Wie deine Augen?", hakte Rick glucksend nach.
Erstaunt hob Al die Brauen. „Woher weißt du das?"
„Zwei Dumme, ein Gedanke", lachte Rick. Er wuschelte Al durchs dunkle Haar.
Al grinste und verdrehte die Augen. „Du bist albern", sagte er.
„Du bist süß", erwiderte Rick lachend.
„Oh." Al errötete. Sein Herz hüpfte. „Danke..."
„Immer doch, Al", wisperte Rick. Dann drückte er ihm sanft einen Kuss auf die Wange. Al zuckte erstaunt zusammen und starrte ihn an. Ricks Wangen färbten sich leicht, und er lächelte schüchtern. Al grinste, und er beugte sich vor und drückte ebenfalls die Lippen auf Ricks Wange.
Rick sah so glücklich aus, wie Al sich fühlte. Er schlang die Arme um den Blonden und ließ sich von ihm an seine warme Brust und gleichzeitig an einen Ort jenseits allem Bösen dieser Welt ziehen.

Nur du zählst...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt