First

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Die Zeiger der großen Wanduhr hielten auf die neun zu, und ihr leises Ticken war neben leisem Geraschel das einzige Geräusch in dem von Morgensonnenlicht erhellten Raum. Allan Dearing knöpfte die letzten Knöpfe seines weißen Hemdes zu und blickte dabei seinem Spiegelbild in die dunkelbraunen Augen. Er musterte die Sommersprossen auf seiner hellen Haut und sein dunkelbraunes Haar, das ihm immer wieder in kleinen Strähnen in die Stirn fiel. Vorsichtig stopfte er sein Hemd in die beigefarbene Hose seiner Hilfssheriffuniform. Es war ein ganz neues Gefühl, wieder eine Uniform zu tragen, zudem noch eine beigefarbene anstatt einer blauen.

Nachdem er vor einigen Wochen während eines Einsatzes schwer verletzt worden war und er zwei Wochen lang im Koma gelegen hatte, hatte sich sein Chef dazu entschieden, ihn aufs Land zu schicken, wo er einen ruhigeren Job führen konnte als hier in der Großstadt. Allan gefiel dies gar nicht, doch er wusste, dass für ihn kein Job infrage kam, der nichts mit der Bekämpfung von Verbrechern zu tun hatte. Leider war er wegen seiner neu entdeckten Herzrhythmusstörung und den noch nicht verklungenen Schmerzen in seiner Magengegend dazu verdammt, einen Bürojob anzunehmen, und er hatte Riesenglück gehabt, dass der Kollege auf dem Land einen Hilfssheriff gesucht hatte.
Seine Hand glitt zur linken Seite seines Unterbauches, und er fühlte die dicke Narbe durch den dünnen Stoff seines Hemdes. Sein Spiegelbild zeigte ihm den Schmerz in seinen Augen und das leichte Zittern seiner Finger.
Ein leiser Seufzer entfuhr ihm. Er war müde, und er hatte keine Lust auf die drei Stunden Fahrt aufs Land. Josephina Hill, so hieß dieser Ort. Irgendwoher kam ihm dieser Name bekannt vor, doch so sehr er auch vor sich hin sinnierte, ihm fiel nicht mehr ein, woher.
Allan drehte sich herum und nahm seine Uniformjacke von der Kante seines Betts. Der Sheriff des Dorfes hatte sie ihm vor einigen Tagen zukommen lassen, zusammen mit einem neuen Waffengürtel und dem ganzen anderen Rest. Selbst seine Dienstmarke besaß er schon.
Allan schlüpfte in die Jacke und schloss sie. Draußen würde es noch kalt sein, der Frühling war gerade erst herangebrochen. Er erinnerte sich daran, wie er am letzten Tag des Winters versucht hatte, einen bewaffneten Räuber zu stellen, doch dieser hatte ihn während der Flucht erwischt. Im Schnee hatte er gelegen, auf dem Parkplatz eines Supermarktes, und Blut gespuckt. Der Schnee hatte sich rosa gefärbt und der Himmel schwarz, und wäre sein Kollege nicht gewesen, hätte er es mit Sicherheit nicht mehr geschafft.
Allan warf einen letzten Blick in seinen Spiegel und atmete tief durch. Sein erster Tag in seinem neuen Leben und einem neuen Job würde bald beginnen, und er wusste noch nicht, was auf ihn zukommen würde, doch was auch immer es sein würde, er war bereit, jede Hürde auf sich zu nehmen.

~

Leise Countrymusik tönte durch den grau-grünen Oldtimer, ein Mercedes-Benz 560 SEL, und irgendwie passte es zu der Idylle, die sich vor ihm erstreckte, und seinem neuen Job auf dem Land. Allan fuhr seit etwa einer halben Stunde schon über die Landstraße, und die Hälfte seiner kleinen Reise war bereits geschafft.
Er summte leise die Texte der Songs mit, die eine Hand am Lenkrad, die andere abgestützt am Rahmen des offenen Fensters. Er zupfte der Angewohnheit halber an der Haarsträhne in seiner Stirn. Seine dunklen Augen huschten immer wieder durch die Gegend, betrachteten neugierig die Landschaft, die sich vor ihm erstreckte. Trotz dass er nicht gerade erfreut über seine Versetzung war, erschien ihm zumindest Kulisse passend. Vielleicht barg Josephina Hill ja ein paar ungeklärte Geheimnisse. 
Er fragte sich zum hundertsten Mal an diesem Morgen, wie zum Teufel der Sheriff noch gleich hieß. Er hatte das Meisterwerk vollbracht, die Visitenkarte, die ihm sein ehemaliger Chef an seinem letzten Tag gegeben hatte, nicht anzusehen und sie sofort zu verlieren. Es schickte sich definitiv nicht, seinem neuen Kollegen entgegenzutreten, ohne sich an seinen Namen zu erinnern.
Er seufzte. Ändern konnte er dies nun leider nicht mehr, also würde er wohl oder übel nachfragen müssen, sobald er ankam.

Nur du zählst...Where stories live. Discover now