Fiftyeight

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Cedric rannte Leicester fast um, als er ohne aufzuschauen um die Ecke bog. Wyatt hob gerade rechtzeitig die Hände, um ihn abzupassen.
Erschrocken riss Cedric den Kopf hoch und starrte den Doktor an. „Verdammt, entschuldige. Wyatt, ich wollte ohnehin zu dir."
Wyatt hob die Brauen. „Tatsächlich? Ich ebenfalls."
Sofort brach Cedric der Schweiß aus. „Ist etwas mit Allan?"
„Nein, nein", beschwichtigte Wyatt ihn und griff nach seinem arm. Erst jetzt bemerkte Cedric, dass er einen Stapel Akten auf dem Arm trug, welche allerdings nicht dem üblichen Krankenhausstil glichen. „Ich wollte dir etwas erzählen. Es wird dich umhauen."
„Ich bin gespannt", murmelte Cedric, unschlüssig, ob er misstrauisch oder interessiert sein sollte. Aber er folgte dem Arzt widerstandslos in ein leeres Behandlungszimmer am Ende des Flurs, vorbei an Allans Zimmer.
Dort angekommen schloss Wyatt die Tür hinter ihnen und deutete auf einen Stuhl. Dann nahm er sich selbst einen rollenden Hocker und nahm die Akten auf den Schoß.
„Du kennst die Geschichte der Burgruine?", begann er leise.
„Nun ja, ich kenne die üblichen Gerüchte und ein paar verschlossene Akten", antwortete Cedric schulterzuckend. „Aber nun ist sie ja ohnehin eingestürzt. Wheatley hat es mir vorhin berichtet."
„Ja... ihr seid gerade rechtzeitig gekommen, um Allan zu retten. Heute Morgen brach sie vollständig zusammen, nachdem wohl das Treppenhaus, zu dem eure Spuren führten, bereits gestern einstürzte. Du hättest dort auch sterben können."
Cedric nickte und schluckte den Kloß in seinem Hals mühsam herunter. Er wollte nicht daran erinnert werden. „Gut, was hast du herausgefunden?"
Schweigend öffnete Wyatt die erste Akte und zog ein Foto heraus. Es zeigte eine junge Frau, vielleicht Mitte zwanzig, wie sie vor dem Tor des Dorfes stand und in die Kamera lachte. Es war etwas älter, vielleicht zehn, fünfzehn Jahre alt. Die Ränder wurden schon gelb.
„Eliza Ross", nannte Wyatt ihren Namen. „Sie verschwand am 23.04.1999 im Alter von dreiundzwanzig spurlos nach einem Date. Niemand wusste, mit wem sie ausging, aber sie machte sich abends hübsch und ging aus dem Haus."
„Gab es Hinweise auf ihren Verbleib?", hakte Cedric nach. Irgendwie kam ihm die Dame bekannt vor, er wusste allerdings nicht, woher und er kannte den Fall auch nicht.
„Nein, bis jetzt konnte niemand ihren Fall lösen", erwiderte Wyatt. „Es gab ein paar Verdächtige, aber wegen Mangel an Beweisen wurde die Akte fallen gelassen. Nun ja, willst du Namen hören?"
Cedric lugte zu ihm auf. Eine leise Ahnung beschlich ihn.
Wyatt reichte ihm ein paar ältere, gelbliche Papiere. Eine Sammlung an Tatverdächtigen, vier Stück. Der erste hieß Roman Kennedy, ein blonder junger Kerl, etwa in Elizas Alter.
„Ihr Freund... aber er hatte in der Nacht ein Alibi", murmelte Cedric, als er die Beschreibung seiner Aussage überflog. Er blätterte weiter. Cole Ross. Ihr Vater. Sie hatten sich gestritten, weil sie nicht erzählte, für wen sie sich hübsch machte, obwohl ihr Freund sagte, dass er sie nicht traf. Sie log ihn an, aber sie verstanden sich ohnehin nicht gut. Ihre Mutter sagte aus, dass er in jener Nacht mit ihr daheim blieb, aber sie saßen in getrennten Zimmern.
Die dritte Seite ließ Cedric stocken. Niemand geringeres blickte ihm so finster entgegen, wie Spencer.
„Edward Ken Spencer", las Cedric grimmig. „Er wurde einmal an einer Ecke mit Eliza gesehen, aber niemand sah sie in vertrauten Handlungen, vielleicht sprachen sie nur zufällig miteinander. In der Nacht, als Eliza verschwand, war Spencer mit 1,2 Promille  alleine unterwegs, wurde aber laut Aussage von Chief Kendrick Green angehalten und nach Hause begleitet. Green bestätigte die Aussage."
Mit einem Schnauben blickte er Wyatt an. „Das kann doch nicht ernst gemeint sein. Green hat die Berichte geschrieben, das ganze ist erstunken und erlogen!"
„Schau dir noch die letzte Seite an, dann kriegst du die letzte Info", sagte Leicester nüchtern. Cedric blätterte weiter, und stutzte. „Das sieht nun aber wirklich nach Dämlichkeit aus", murmelte er, als ein gewisser Wheatley ihn von dem Verdächtigenfoto anblinzelte. Im Gegensatz zu den anderen Seiten war das Papier noch in ziemlich gutem Zustand und die Qualität des Fotos darauf war ein wenig zu gut für den Anfang des 21. Jahrhunderts. Das ganze ging aber auch deshalb nicht auf, da Wheatley damals ja noch ein Kind gewesen sein musste, als Eliza verschwand. „Was hat es damit auf sich? Gibt es einen Doppelgänger, von dem ich nichts weiß?"
„Nein, aber Green scheint den jungen Mann ziemlich auf dem Kieker zu haben, seit er mitbekommen hat, dass er dir hilft." Wyatt grinste schief. „Er denkt echt, ich hätte nicht mitbekommen, dass er die Seite zwischen meine Unterlagen geschmuggelt hat. Aber so intelligent ist er gar nicht. Im Gegenteil, ich wundere mich, warum er sie nicht einfach geklaut hat."
Cedric lachte auf. „Das ist Teil seiner fehlenden Intelligenz." Dann wurde er wieder ernst. „Er hat Wheatley gedroht, dass er ihm seine Zukunft verbaut, wenn er sich weiterhin auf meiner Seite zeigt. Und er hat mit Sicherheit einen Spitzel, der uns heimlich beobachtet, sonst hätte er gar keine Informationen."
„Pass auf, vielleicht bin ich es ja", meinte Wyatt und wackelte bedeutend mit den Augenbrauen. Mahnend trat Cedric ihm gegen das Schienbein, aber nur leicht. „Lass den Quatsch. Bei Green vergeht mir sämtlicher Sinn für Humor. Das hier ist kein Spiel mehr, ein Mensch ist bereits gestorben, und mein Freund er fast der nächste gewesen!"
Sanft legte Wyatt ihm eine Hand auf den Arm und blätterte in seiner Akte weiter. „Hier, schau. Das ist der eigentliche Grund, weshalb ich dir das alles zeige." Er reichte ihm ein Foto, welches erst kürzlich geschossen worden musste. Es bildete einen komplett verwesten, aber dennoch erkennbar weiblichen Leichnam ab, welcher inmitten von Schutt und Steinen lag.
„Ist das..." Cedric stockte.
„Das ist Eliza Ross", antwortete Wyatt leise. „Verloren in den Ruinen Josephina Hills Wahrzeichens."
Stumm starrte Cedric das Bild an. Das musste das einstige Treppenhaus sein, welches eingestürzt war. Wyatt bestätigte seine Vermutung.
„So wurde der Fall erst wieder aufgegriffen", erläuterte er. „Die Kollegen haben die Leiche kurz nach dem Einsturz geborgen, als sie sich die Ruine anschauen wollten. Schließlich hat seit Ewigkeiten keiner mehr Informationen über diese Burg gefunden. Es ist ein Wunder, dass du dorthin gefunden hast. Geschweige denn, dass Spencer davon wusste.
Gottseidank ist die Medizin mittlerweile so weit vorangeschritten, dass die Leiche sehr schnell über die DNA identifiziert werden konnte. Allerdings hätte es auch nicht lange gedauert, bis irgendwer sich an Eliza erinnert hätte. Schließlich erkennt man auch jetzt noch ihr Kleid, das sie damals trug."
Cedric nickte nachdenklich. Verglichen mit dem Vermisstenbild, erkannte er es ebenfalls. Ein hübsches, purpurrotes Cocktailkleid, welches auf dem letzten Bild jeglichen Glanz verloren, und vollkommen vom Schmutz überzogen war.
„Haben sie Hinweise auf den Täter gefunden? Irgendetwas, das auf Spencer oder Green zurückführen wird?"
„Ich weiß es nicht", ratlos zuckte Wyatt die Achseln. „Wir müssen warten, bis wir näheres erfahren. Aber ich bin mir sicher, dass sie irgendetwas finden. Spencer war betrunken in der Nacht, er wird mit Sicherheit nicht weiter auf das Verwischen von Spuren geachtet haben."
Nach einer Weile blickte Cedric auf. „Woher  hast du die Informationen eigentlich? Du dürftest eigentlich nichts von alledem wissen." Er musterte den Arzt skeptisch.
„Ach Cedric, du kennst mich doch. Ich habe überall meine Kontakte." Er zwinkerte ihm zu. „Ich kenne die Pilotin Alara Seyfried, die euch rausgeholt hat. Ich habe sie ein wenig bequatscht und sie dazu gebracht, Informationen aus ihren Kollegen von der Wache rauszuquetschen. Dann brachte sie mir heute morgen das Foto und klärte mich kurz auf. Die Akten sind alt und aus dem Archiv, es war wohl nicht sonderlich schwer, diese zu klauen."
„Wenn einer spitz kriegt, dass du eine Beamtin zu einer Straftat verleitet hast...", brummte Cedric missmutig, staunte aber insgeheim nicht schlecht. Wyatt war ein gewiefter Kerl, der mit allen Wassern gewaschen war und sich vor keinen Risiken scheute. Allein deshalb war er so erfolgreich.
Schließlich erhob er sich ächzend und klemmte sich die Akte unter den Arm. „Beweismaterial. Das konfisziere ich aufs erste."
„Natürlich, Sheriff, tun Sie sich keinen Zwang an." Wyatt schmunzelte. Auch er stand auf und drückte Cedrics Arm. „Ach ja... bevor ich's vergesse; ich glaube, die Leute wissen mittlerweile von euch." Er bedachte ihn mit einem unmissverständlichen Blick.
Cedric nickte langsam. „Aber sie werden mir nichts tun können. Sie sollen reden wie sie wollen."
Wyatt zögerte. „Ich glaube, es gehen seltsame Gerüchte herum... aber ich weiß nicht genau, was es ist. Es wird viel getuschelt, Cedric. Sperr' die Lauscher auf, es könnte dir sonst gefährlich werden."
Toll. Cedric schnaubte leise. Er hatte keine Lust auf noch mehr Probleme als überhaupt. Und er wusste auch leider nicht, worauf es bei Wyatt's Besorgnis hinauslief.
Er seufzte auf. „Gut. Ich gehe rüber zu Allan. Wenn es irgendwas Neues gibt..."
„Ich sage Bescheid." Wyatt lächelte schief. „Ach und... geh vielleicht mal nach Hause und mach dich frisch."
Müde wischte Cedric sich übers Gesicht. „Du hast recht. Ich gehe über Nacht, aber ich will, dass jemand vor Allans Zimmer und dem von Wheatley Wache hält. Kriegst du das hin?"
Der Arzt überlegte kurz. „Ich rufe Seyfried an. Ist das für dich in Ordnung?"
Cedric kannte die Dame nicht, nickte aber. Sie hatte ihnen Informationen besorgt, also stand sie hoffentlich auf ihrer Seite. Er drückte dankbar Wyatt's Schulter und verließ dann das Zimmer. Er wollte unbedingt zu Allan. All diese Informationen raubten ihm die Energie.

Er klopfte kurz drei mal an Allans Tür an, damit dieser wusste, wer kam. Dann trat er in das Krankenzimmer.
Allan sah müde aus, als er sich etwas im Bett aufsetzte und die Mundwinkel hob. Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten. Ihm war anzusehen, dass er noch gewisse Zeit brauchen würde, um sich vollständig zu erholen.
„Hey." Lächelnd setzte Cedric sich zu ihm aufs Bett und legte eine Hand an seine Wange.
„Hey." Allan schloss die Augen und schmiegte sich in seine Hand.
„Wie geht es dir?"
Allan lachte heiser. „Hast du das nicht schon drei mal heute gefragt?"
„Stimmt gar nicht. Zwei Mal höchstens", erwiderte Cedric leise.
Allan seufzte. „Schrecklich. Mein Herz bringt mich noch um." Er stockte, zitterte leicht. Er legte eine Hand auf Cedrics Knie, was ihn leichte Panik verspüren ließ. „Cedric, ich... wenn es schlimmer wird, brauche ich entweder ein Spenderherz oder—" Er brauchte es gar nicht auszusprechen, Cedric ahnte, worauf es hinauslief.
„Hat Leicester das gesagt?", fragte er direkt.
Rasch schüttelte Allan den Kopf. „Nein, nein. Das sagte mein Arzt damals, als ich aus dem Koma erwachte. Meine Herzrhythmusstörung und das kleine Loch im Herzen erschweren es meinem Körper erheblich, am Leben zu bleiben. Die Folgen sind wohl doch schwerer, als ich gedacht hätte. Und die letzten Tage haben meine Chancen nicht gerade erhöht."
Cedric schluckte. Er wollte sich gar nicht ausmalen, was das für Allan bedeutete, wenn sich sein Zustand weiterhin verschlechterte. „Hast du denn Leicester schon davon erzählt?"
„Das werde ich machen, sobald er das nächste mal vorbeikommt", erwiderte Allan. Mit einem Seufzer ließ er sich zurück ins Kissen sinken und klopfte neben sich auf die Matratze. Cedric nahm die Einladung an und machte es sich neben ihm bequem. Allan kuschelte sich an ihn und griff nach seiner Hand. Dann entdeckte er wohl die Akte, welche Cedric mitgebracht hatte. „Was ist das denn?"
„Oh, es wird dich umhauen", sagte Cedric. Er zeigte ihm die Bilder und unterlagen darin und erklärte kurz und knapp den Fall von Eliza Ross.
„Wow... das hätte ich niemals von Josephina Hills gedacht", lachte Allan schließlich leise.
„Hey, kleine Dörfer dürfen auch krasse Mordgeschichten haben", neckte ihn Cedric. „Aber ich hätte das auch nicht erwartet. Ich habe von dem Fall noch nie was gehört, aber es ist schon so lange her. Es ist erstaunlich, dass er gerade jetzt noch aufgeklärt werden kann."
„Weißt du, wo die Hinweise geklärt werden? Oder etwas von der Forensik?" Allan klang neugierig, wie in seinem Element.
Schmunzelnd strich Cedric ihm übers Haar. „Leider nicht, Großstadtcop. Aber ich denke, der Fall wird im Nachbardorf behandelt. Leicester kennt eine Kollegin von der Wache, ich werde mal mit ihr reden und versuchen, weitere Infos zu bekommen."
Allan nickte. Dann legte er den Arm über die Unterlagen, und als Cedric den Kopf zu ihm wandte, fing Allan ihn mit einem Kuss ein. Überrascht, aber bereitwillig lehnte er sich weiter zu ihm runter und erwiderte den Kuss. Die Anspannung wich langsam von ihm. Es tat gut, sich für einen Moment nur auf Allan zu konzentrieren, den Mann, den er über alles liebte.
Beinahe hätte er vergessen, dass Allan noch immer verletzt war, als er einen Arm um ihn legte. Doch dann zog sich Allan wieder zurück, um nach Luft zu schnappen, obgleich der Kuss sehr sanft gewesen war. Besorgt schaute Cedric ihn an. „Alles in Ordnung?"
„Ja, keine Sorge, ich hab einfach weniger... Ausdauer." Der Dunkelhaarige grinste schief, wenn auch schwach. Aber er schien dennoch glücklich, was Cedric milde lächeln ließ. Er rückte näher an ihn heran, legte eine Hand auf seine Wange und wartete, bis Allan wieder normal atmete, bevor er sich erneut zu ihm lehnte. „Darf ich?"
„Frag nicht so blöd", brummte Allan und kam ihm erneut entgegen, um ihn grinsend zu küssen.
Für einen Moment schien die Welt in Ordnung.

Nur du zählst...Where stories live. Discover now