Wunden

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Trigger Warnung: häusliche Gewalt

Mit Tränen in den Augen starrte Al auf das Kleidungsstück in seinen Händen.
Ein einst blütenweißes Hemd, welches mal Rick gehört hatte. Nun war es zerknittert, gelblich unter den Ärmeln, und nur dürftig waren die Blutflecken an der linken Seite herausgewaschen worden.
Sein Blick schweifte ab zu den anderen Kleidungsstücken, die er auf seinem Bett ausgebreitet hatte, um sie zu falten und in seinen Koffer zu packen.
Alles, was ihm noch von Rick geblieben war.
Oder eher gesagt, was ihm noch von Rick bleiben würde, wenn er ihn verließ.
Die Tränen liefen ihm heiß und ätzend über die puterroten Wangen, bahnten sich ihren Weg über sein Kinn, seinen Hals, tropften auf den Boden. Ein Schluchzen entfuhr ihm, schnell schlug er sich die Hand auf den Mund. Seine Eltern sollten ihn nicht hören. Sie durften auf keinen Fall erfahren, dass er weinte.
Rasch wischte er sich mit der Hand übers Gesicht, fuhr sich durchs Haar und straffte die Schultern. Er durfte jetzt nicht klein beigeben, sonst würde alles schief laufen. Und das durfte er nicht riskieren.
Zackig machte er sich daran, seinen Koffer ordentlich zu packen. In einem gut versteckten Schlitz im Futter versteckte er die Kette, die Rick ihm mal geschenkt hatte, etwas Geld, das seine Eltern noch nicht gefunden hatten, ein Taschenmesser und ein paar Fotografien von Rick und ihm.
„Allan!", tönte dann plötzlich die Grollstimme seines Vaters durchs Haus. Al zuckte zusammen und drehte sich just in dem Moment auf dem Absatz um, als die Tür seines Zimmers mit lautem Knall auf flog und gegen die Wand schepperte.
„In die Schule mit dir!", brüllte sein Vater, und abermals schrak er zusammen.
Mit den Fäusten in die Hüften gestemmt, dem verströmenden Gestank von Alkohol und drohendem Gesichtsausdruck stand der Mann, welcher sich seinen Vater schimpfte, im Licht des winzigen Zimmers, kaum zwei Meter von dem kleinen Jungen entfernt.
Tu was. Gehorche ihm, bevor er noch wütender wird.
„Natürlich", haspelte Al verängstigt und eilte zu seiner bereits gepackten Schultasche.
„Mach schneller!", befahl sein Vater.
Al nickte hastig, schwang seine Tasche im Gehen über die Schultern und hastete mit gesenktem Kopf auf die Tür zu, wo sein Vater den Weg blockierte. Sein Herz raste wie wahnsinnig, und er wusste, was ihm bevorstand, als sein Vater sich keinen Zentimeter rührte, um ihn durchzulassen.

„Al... Al! Bleib doch stehen, bitte!"
„Was denn?" Gereizt fuhr Al herum, blickte Rick entgegen, welcher aus dem Schulgebäude auf ihn zulief. Jener starrte ihn verwirrt an und machte einen Meter vor ihm Halt.
„Ich wollte mit dir reden", sagte Rick atemlos. Er klang besorgt. Nicht gut. Unwohl überspielte Al seine Angst und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. „Ich aber nicht."
Rick hob überrascht die Brauen und trat auf ihn zu. „Hab ich was falsch gemacht?", fragte er, hob vorsichtig die Hand, um seine Wange zu berühren. Al zuckte zurück, bevor die anderen Schüler etwas davon mitbekamen. „Lass das", fauchte er leise.
Sein Herz stach.
So sehr.
„Tut mir leid", murmelte Rick sofort. Er ließ die Hand wieder sinken, blickte ihn aus diesen verflucht schönen blauen Augen an. „Ich... ich möchte dir keine Unannehmlichkeiten bereiten. Ich wollte nur wissen, ob etwas passiert ist. Du wirkst so gereizt und abweisend, und ich verstehe nicht, was ich falsch gemacht habe, dass du so reagierst. Ich tu dir doch nichts, Al, versprochen."
Das wusste Al. Er wusste, dass er bei Rick sicher war. Doch Rick war nicht bei ihm sicher, nicht mehr, und würde es auch niemals sein, wenn er weiterhin mit ihm in Kontakt stand.
Er wollte ihn doch nur schützen.
„Es tut mir leid", wisperte er kaum hörbar, wich dem Blick dieser blauen Augen aus und Ricks Hand, die nach der seinen greifen wollte.
Er wandte sich ab, hastete über das holprige Kopfsteinpflaster und kam ins Stolpern.
„Al!", rief Rick zum dritten Mal an diesem Tag, hoffentlich dem letzten. Al ignorierte sein Rufen und das Trommeln Rick's Schuhe auf dem Pflaster.
„Bleib doch stehen, bitte!"
Al wurde von hinten an beiden Armen gepackt, sein Herz setzte automatisch einen Schlag aus, und bevor er sich selbst stoppen konnte, hatte er Rick mit einem kräftigen Ruck so hart von sich geschüttelt, dass der größere Junge strauchelte und auf dem Hinterteil landete.
Geschockt und schwer atmend drehte Al sich auf dem Absatz um und starrte Rick an, welcher mit offenem Mund zurückstarrte.
Mehrere Augenblicke lang sagte keiner von beiden etwas. Dann endlich sprach Rick zuerst.
„Al, was ist geschehen?"
Sag es ihm. Sag es ihm, na los, mach schon!
Al schluckte den Kloß in seinem Hals herunter und verdrängte das reißende Gedankenmeer in seinem Kopf, bis es nur noch eiskalte, stillstehende See war.
„Nichts."
Dann wandte er sich ab und lief los.
Und lief.
Und lief.
Und lief.
Zurück in seine hauseigene Hölle.

Nur du zählst...Where stories live. Discover now