16. Ly's Geschichte

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Ly

"Sie sind seit mehreren Stunden weg!", sage ich laut. "Aber dein auf und ab laufen bringt sie auch nicht zurück." Ich werfe Xaver einen beleidigten Blick zu und gehe weiter. "Ich werde sie holen!", beschließe ich nach einer Weile. "Das ist ausgeschlossen! Du bist genauso machtlos wie wir." "Ihr könnt mir eure Ausrüstung geben. Ich werde nach ihnen sehen. Vielleicht sind sie verletzt, oder es ist etwas schief gegangen." "Du wirst nicht alleine gehen. Es ist zu gefährlich. Auch dir könnt etwas passieren." "Also gut.", stimme ich zu. "Wir brechen morgen früh auf." Zustimmend nicke ich. Am nächsten Morgen stehe ich mit fünf Männern an der Bergwand und bahne mir meinen Weg nach oben. Nach einer Ewigkeit und vielen Komplikationen erreichen wir das kleine Dorf. Schon von weitem kann ich das große, zerstörte Gebäude sehen. Je näher wir ihm kommen, desto mehr Männer liegen uns im Weg. Aber sie sind nicht tot, sondern ohnmächtig. Das heißt sie müssten seit etwa zehn Stunden hier liegen. Wie ist das möglich, dass keiner von ihnen aufgewacht ist? "Wartet hier!", befehle ich den Männern. "Und kümmert euch um diese Menschen hier." Sie nicken und ich nähere mich langsam dem zerstören Haus. Bevor ich die Haustür öffnen kann, fällt sie um. Erschrocken tretet ich ein paar Schritte zurück. Dann luge ich durch de Türrahmen und erkenne ein Wohnzimmer. Ein paar Steinbrocken sind aus der Decke ausgebrochen und liegen auf den Möbeln. Dadurch kann man in den oberen Stock sehen. Auch das Dach hat große Löcher. Sowohl der Tisch als auch die Couch ist vollkommen zerstört. Da sehe ich eine Tür, die schief in ihren Angeln hängt. Dahinter ist eine kleine Treppe, die nach unten führt.

Lauter als ich es will hallen meine Schritte an der Steinwand wieder. Nach etwa fünf Meter in die Tiefe kommt ein kleiner Gang. Er ist vollkommen dunkel. Als ich ihn betrete, fangen die Fackel, die die Wände zieren, sofort an zu brennen. Ich muss grinsen und gehe schnell zu einer Eisentür, die vor ein paar Stunden sicher Monster abgehalten hätte, doch jetzt nutzlos am Boden liegt. Im Inneren des Raumes sieht es schlimmer als als das restliche Haus. Die Decke ist vollkommen zusammengebrochen und liegt als große, zerbrochene Platte am Boden. Dadurch kann man direkt auf den bloßen Dachstuhl sehen. Unter den Trümmern liegen vereinzelt Männer in Rüstungen. Schon jetzt weiß ich, dass sie tot sind. Aber in der Mitte, liegt kein einzier Stein, was mich nicht verwundert. Und auf dem Boden liegt Leon. Sein T-Shirt ist blutrot und sein Gesicht ist vollkommen weiß. An seinem Hals ist eine dünne, rosa Linie. Ich eile zu ihm und prüfe seine Atmung. Ich kann den schwachen Luftzug vernehmen, der von seiner Nase ausgeht. Langsam hebe ich meine Hände hinter den Kopf und stehe auf. Mia hätte so einen Schaden nicht einmal ansatzweise verursachen dürfen. Aber sie hat es getan. Wie, ist mir rätselhaft. Und Tote zum Leben erwecken? Ich kenne nur fünf Lebewesen die das können. Und die sind unsterblich.

Ein Stöhnen reißen mich aus meinen Überlegungen. An der Wand liegt eine kleine, unscheinbare Gestalt. Schnell hüpfe ich über die Trümmer zu Mia. Sie liegt zusammengekauert neben der Wand und ihre blonden Haare fallen über ihre Schulter auf den Boden. Keuchend dreht sie sich zu mir und ich kniee mich vor ihr hin. "Hey.", sage ich leise. "Leon!", hustet sie. "Alles wird gut. Ich verspreche es dir.", flüstere ich. "Nein, du verstehst nicht..." "Keine Sorge. Alles wird gut.", wiederhole ich. "Ly, hör mir zu. Du musst...", sagt sie, doch bevor sie den Satz beenden kann, fällt sie in Ohnmacht. Ich fluche und ziehe sie auf meinen Schoß. Erst jetzt erkenne ich die dünne Metallplatte, die in ihrem Bauch steckt. "Was hast du bloß angestellt?", sage ich leise und streiche Mia die Haare aus dem Gesicht. Auf jeden Fall muss ich die zwei nach oben schaffen, bevor die Männer aus dem Berg hiervon etwas mitbekommen. Denn sie würden es berichten und alles würde noch verzwickter werden, als es sowieso schon ist. Deshalb schlinge ich meine Arme unter Mias Arme und schleppe sie über die Stiegen hinauf. Oben lege ich sie aufs Sofa und eile zurück. Wenig später schleife ich Leon keuchend durchs Wohnzimmer. Im selben Moment kommt der erste Mann herein. "Hast du sie gefunden?", fragt er in einer tiefen Stimme. Ich nicke. "Was ist passiert?", will er wissen. "Keine Ahnung.", antworte ich schulter zuckend. Ich muss so tun als wüsste ich von nichts! Um jeden Preis! Sie könnten herausfinden was ich bin. Und dann würde es mir so ergehen wie Finn. Sofort als ich an Finn denke, zieht sich meine Brust zusammen. Wie konnte so etwas nur geschehen? Wann sind wir an dem Punkt angelangt, an dem wir unsere Schützlinge töten anstatt sie zu verteidigen?

Doch ich schüttle den Kopf und kehre wieder in die Gegenwart zurück. Ich muss mich darauf konzentrieren, nichts falsches zu sagen. Allerdings habe ich zur Zeit ganz andere Probleme: Mia und Leon. Wie soll ich den Bergmenschen erklären, was hier passiert ist? Wie viel wissen sie überhaupt schon?

Seit einer Woche sitze ich nun schon in diesem staubigen Raum und starre den unangenehm, flackernden Bildschirm an. Mia ist immer noch nicht wach. Seit einer Woche quält mich der Selbstzweifel. Ich kann nichts für Mia tun. Vor ein paar Tagen habe ich Leon besucht. Kurz nachdem ich gegangen bin, ist er aufgewacht. Niemand hat mich damit in Verbindung gebracht, wobei er ohne mich nicht aufgewacht wäre. Als er so still auf seinem Bett lag, habe ich ihm gesagt, dass er stark bleiben soll und das alles wieder gut wird. Er kann sich nicht mehr daran erinnern, das ist mir bewusst, aber er hat es gehört, da bin ich mir sicher. "Zumindest einem dem ich helfen konnte", denke ich. Denn ich habe noch immer nicht herausgefunden, wo Finn ist. Und ich weiß, dass jeder Tag der vergeht, ihn das Leben kosten könnte. Plötzlich höre ich eine Piepen, welches mich wieder in die Realität zurückholt. Mia ist aufgewacht. Sofort nähere ich mich dem Bildschirm. Ich kann sehen wie sie ihren Mund öffnet. Diese Übertragung ist ohne Ton, dennoch weiß ich, dass sie schreit. Dann wird sie wieder ohnmächtig. Seufzend setzte ich mich in meinen Stuhl zurück. Nach etwa zwei Stunden erwacht sie erneut.

"Willst du zu ihr? Ihr sagen, dass es dir gut geht und das sie in Sicherheit ist?", fragt Xaver, als er den Raum betritt. Soll ich es riskieren? Mia besuchen und den Menschen im Berg diese wichtigen Informationen zu geben? Ich kann weder sagen, was ich bin, noch das sie hier nicht sicher ist. Und auch wenn ich ihr sage, dass Leon am Leben ist, werde ich es bald nicht mehr sein. Denn Mia würde anfangen Fragen zu stellen. Sie hat gesehen, wie Leon die Kehle durchgeschnitten wurde. Und dennoch lebt er. "Sagt ihr, ich sei in einem Schockzustand und würde sie sehen, sobald es geht." Langsam nickt Xaver, mustert mich noch ein letztes Mal und verschwindet dann. Sofort gleitet mein Blick wieder zum Bildschirm. Mia hat wieder angefangen zu schreien. Wenige Minuten später erscheint Xaver auf dem Bildschirm. Während er mit ihr redet, bleibt Mia still. Dann steht sie auf und geht mit ihm mit. Wahrscheinlich begleitet Xaver sie ins Bad. Und so ist es, denn sie kommt nach einer halben Stunde mit nassen Haaren wieder zurück. Doch plötzlich läuft sie auf die Wand zu. Ich keuche auf. Plötzlich bleibt sie stehen. Ich kann sie nur von hinten sehen, doch es scheint als würde sie mit der Wand reden. Da nimmt sie einen Polster vom Bett und schmeißt ihn gegen die Wand. Meine Augen werden feucht. Ich weiß, dass sie Leon sieht. Das hätte alles nie passieren dürfen! Warum ist er nicht einfach gestorben? Leon macht sie verrückt.

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