16. Ohne Fleiß kein Preis

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Mia

"Äh okay.", fängt Leon unschlüssig an. "Also zuerst wirst du das Ausweichen lernen.", durchbricht er schlussendlich die Stille. "Thea hat gesagt, dass ich zuerst zuschlagen lerne.", wiederspreche ich grinsend, was ihn etwas aus der Bahn wirft. "Ok. Aber ich bin nicht Thea. Außerdem, was hilft dir ein kräftiger Schlag, wenn du auf den Gegenschlag nicht reagieren kannst?", kontert er. Auf diese Aussage erwidere ich nichts mehr. "Na also.", sagt er zufrieden. Ich gähne demonstrativ und blicke ihn gelangweilt zu, wie er mit verschiedenen Tricks die Luft fertigmacht. Langsam schweifen meine Gedanken ab. Zu der großen Bibliothek, die nur ein paar 100 Meter weiter wartet. "Mia!", höre ich ihn wütend rufen. Ich runzle die Stirn und blicke fragend zu Leon. Er seufzt. "Es tut mir Leid, aber wenn du mir nicht zuhörst, musst du sofort mit dem praktischen Teil anfangen." "Ja! Praktisch klingt doch gut! Nicht so langweilige Vorträge zuhören, während man nichts machen darf! Also fangen wir an!", rufe ich wohl etwas zu enthusiastisch, denn Leon wirft mir einen seltsamen Blick zu. Schon nach den ersten fünf Minuten vermisse ich die Zeit, als er mir alles nur erklärt hat. "Also noch mal! Weil du so wild auf das Schlagen bist, fängst du auch an. Zuerst schlägst du mich, dann weichst du meinem Schlag aus.", erklärt er mir. Ich nicke und er stellt sich mit seinen Fäusten vor dem Gesicht vor mich hin. "Los!", grinst er. Ich laufe auf ihn zu und ziele auf seine Rippen. Er macht einen Schritt nach hinten, bohrt seine Faust aber sofort in meinen Bauch. Ich keuche auf und taumle zurück. "Du hast vorhin überhaupt nicht zugehört oder?", fragt er enttäuscht.

"Es hat keinen Sinn mit dir zu trainieren, wenn du sowieso keine Lust auf das Alles hast." "Aber ich möchte das wirklich machen!", rufe ich. "Tja, so sieht es nicht gerade aus. Überleg dir, was du wirklich willst." Ich starre ihn an. Natürlich will ich mich verteidigen lernen. Aber doch nicht mit langweiligen Vorträgen und eine darauf folgende Prügelei. "Du kannst es dir bis Morgen überlegen. Wenn du etwas lernen willst, dann unterrichte ich dich gerne. Aber nur wenn du mir zuhörst und aktiv mitmachst. Natürlich kannst du auch zum Rat zurückgehen, aber dort wirst du mit großer Wahrscheinlichkeit sterben." Mit diesen Worten lässt er mich fassungslos stehen. Aber ich will doch trainieren! Wütend stampfe ich mit dem Fuß auf! Ich hätte einfach zuhören sollen! Was soll ich denn bis morgen machen? Vielleicht kann ich meine Flügel vollständig verschwinden lassen. Das würde Thea und Leon von meinem Willen zu trainieren überzeugen! Was hat Thea gesagt? Auf die Flügel konzentrieren und mit vorstellen, wie ich durch den Wald laufe. Das hat aber nicht so gut funktioniert. Ich könnte mir einfach vorstellen, wie meine Flügel verschwinden! Also schließe ich meine Augen und konzentriere mich. Wie ist es so ohne Flügel? Langsam spüre ich das Kibbeln wieder, dass bald meinen ganzen Körper eingenommen hat. Die Flügel müssen einfach unsichtbar werden! Immer fester kneife ich meine Augen zusammen. Plötzlich spüre ich das Kribbeln nicht mehr. Hastig öffne ich meine Augen, um zu sehen, was schief gegangen ist. Aber als ich einen Blick über meine Schulter werfe, quietsche ich auf. Ich sehe nichts! Keine Flügel, die hell in der Sonne glänzen. Kein leichtes Mitwippen, immer wenn ich mich bewege. Irgendwie fühlt es sich an, als wäre ein Teil von mir einfach weg. Aber es fühlt sich gleichzeitig unglaublich gut an. Ich fange an zu rennen. Dann drehe ich mich. Und zum ersten Mal ist da nichts, dass mich an meinen Bewegungen hindert.

Mir ist es nie aufgefallen, aber die Flügel haben mich auf eine gewisse Weise eingeschränkt. Ich fange an zu lachen. Das Gefühl ist so unglaublich schön. Auch ohne Flügel fühle ich mich so frei, wie ich es normalerweise nur beim Fliegen bin. "Ich wusste, dass sie das schafft!" Ich wirble herum. Hinter mir stehen Thea und Leon, die mich angrinsen. "Was?", frage ich vollkommen überrumpelt. "Es tut mir Leid.", lacht Leon. "Aber Thea hatte die Idee, dass du am produktivsten bist, wenn du dir alles selbst erarbeiten muss." Ungläubig starre ich sie an. "Und ich habe Recht behalten.", lächelt Thea zufrieden. Ich werfe einen prüfenden Blick über die Schulter und nicke. "Wollen wir wieder anfangen zu trainieren?", fragt Leon lächelnd während er sich verlegen mit den Händen durch die Haare fährt. Ich kneife die Augen zusammen und mustere ihn. "Kein Angst. Diesmal wird es nicht so langweilig.", sagt er schnell. Jetzt muss ich auch grinsen. "Also fangen wir an.", antworte ich. "Wie wäre es, wenn ich und Thea dir Mal zeigen, wie es aussehen sollte? Du kannst zusehen und vielleicht merkst du dir ja etwas.", schlägt Leon vor. Ich nicke eifrig. Also gehe ich einen Schritt beiseite und sehe zu, wie sich Thea und Leon gegenüber ausstellen. Plötzlich stürzt sich Thea auf Leon zu. Dieser wappnet sich sofort und duckt sich weg, als sie ausholt. Dann nimmt er Theas Bein und dreht es so, dass sie gezwungen ist, sich auf den Boden zu werfen. Triumphierend lässt er sie am Boden liegen und geht zu mir. "Also, hast du etwas gelernt?" Als ich ihn warnen will, war es schon zu spät. Thea ist aufgesprungen und zieht Leon mit einer Bewegung die Beine unter dem Körper weg. Keuchend fällt er auf den Rücken. "Lasse nie deinen Gegner aus den Augen. Das hat sie jetzt wohl kapiert.", lacht sie und hilft ihm auf. "Also los! Mia hat noch viel zu lernen."

Am Abend habe ich sowohl gelernt, wie ich mich verteidige, als auch wie ich am besten angreife. Ich bin unglaublich müde und in meinem Körper tut jeder einzelne Knochen weh. Genussvoll stelle ich mich unter die Dusche und lasse das kühle Wasser über meinen erhitzen Körper rinnen. Meine Flügel habe ich bislang nicht wieder sichtbar gemacht. In frischen Klamotten und mit einem knurrenden Magen lasse ich mich auf den bequemen Sessel meiner privaten Bibliothek nieder. Da ich mir ein anderes Buch suchen wollte, musste ich wohl oder übel wieder aufstehen. Bei jedem Schritt kann ich meine Muskeln spüren, die heute zum ersten Mal trainiert wurden. "Morgen werde ich sicher einen Muskelkater haben.", schießt es mir durch den Kopf. Aber es fühlt sich gut an. In einer der unteren Reihen finde ich einen vielversprechend aussehenden Roman. Er trägt den Titel "Harry Potter". Davon habe ich noch nie gehört. Aber als ich mir die kurze Zusammenfassung durchlese, muss ich sofort anfangen es zu lesen. Seite um Seite fällt meinem Lesedurst zum Opfer. Schon nach kurzer Zeit versinke ich vollkommen im Buch und nehme meine Umgebung kaum mehr wahr. Aber plötzlich reißt mich ein Geräusch aus der Trance. Mein Magen rebelliert gegen den Mangel an Essen. Also hieve ich mich aus dem Sessel, nehme das Buch aber mit, und tapse langsam ins Wohnzimmer. Dort sitzt Leon und isst Nudeln. Schon als ich die Tür aufmache, schlägt mir der wunderbare Duft entgegen.

FairytaleWhere stories live. Discover now