14. Wie man seine Flügel verschwinden lässt

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Mia

Ich blicke zu Leon. Er ist genauso verwirrt wie ich. Wenn sie nicht darüber reden will, muss sie nicht. "Was meinst du damit? Was werden wir machen?", frage ich stattdessen um die deutlich zu spürende Spannung zu überbrücken. "Nun du wirst lernen, wie man sich verteidigt. Wie du am besten kämpfen kannst.", erklärt mir Thea sichtlich erleichtert, dass ich nicht weiter auf das Thema eingehe. "Warum sollte ich das jemals brauchen?", erwidere ich irritiert. "Das wirst du. Glaub mir.", verspricht sie mir. "Dann lass uns anfangen.", rufe ich etwas zu enthusiastisch. "Hey!", meldet sich Leon zu Wort. "Was mache ich inzwischen?" "Du kümmerst dich um die Pferde. Und danach findest du sicher etwas, was dich lange genug beschäftigt." Mit diesen Worten schwingt die Tür auf und Thea tritt in das Sonnenlicht. Ohne sich nochmal umzudrehen geht sie den Hügel hinunter. "Naja...Du hast sie gehört.", verabschiede ich mich. Doch er hält mich zurück. Er schlingt seine Arme um meinen Oberkörper. Zuerst bin ich verwirrt, doch dann lege meine Arme um seinen Hals und meinen Kopf gegen sein Schlüsselbein. Es fühlt sich nicht fremd oder komisch an, eher beruhigend und normal. "Pass auf dich auf. Versprich mir das.", flüstert er behutsam. "Versprochen.", flüstere ich zurück. Wir lösen uns wieder und er lächelt mich an. "Dann viel Spaß.", grinst er. "Und lass dich nicht verprügeln!" Ich grinse ihn an und erwidere, dass mich niemand so leicht verprügelt. Dann trete ich durch die Tür und lasse meine Augen über die Lichtung schweifen. Die Sonnenstrahlen stürzen sich gierig auf die Blumen und das Gras. Sogar der Wald, der immer bedrohlich und dunkel gewirkt hat, scheint nun eher wie ein normaler Wald. An diesem Anblick werde ich mich nie sattsehen. Das weiß ich jetzt schon. Als ich Thea bei den ersten Bäumen stehen sehe, laufe ich zu ihr. "Womit fangen wir an?", frage ich gespannt.

"Du lernst, wie du deine Flügel zusammenfaltest." Ich lache nervös. Ich muss mich verhört haben. Hat sie gerade gesagt, dass ich meine Flügel verschwinden lassen soll? Plötzlich schießt mir etwas durch den Kopf. Es ist der Moment, als ich Thea das erste Mal sah. Und wie ihre Flügel plötzlich aus ihrem Rücken herausgeschossen sind. Ich habe nie darüber nachgedacht, wie sie das gemacht hat. "Wie funktioniert es?", frage ich zunehmend verblüfft. "Du konzentrierst dich auf deine Flügel. Stell sie dir genau vor. Spüre die Kraft, die in ihnen schlummert." Ich konzentriere mich auf sie, wie es Thea gesagt hat. Wie sie leicht in der warmen Briese mitwippen und ihre Kraft durch meinen Körper fließt. "Kannst du sie spüren?", höre ich Theas Stimme weit entfernt. Ich nicke. "Dann stell dir vor, wie du durch einen Wald läufst." "Was?", frage ich verwirrt und will meine Augen öffnen. "Stell es dir vor!", höre ich Theas Stimme, was mich meine Augen wieder schließen lässt. "Ich...", wiederspreche ich, doch dann überlege ich es mir anders. „Wenn du meinst.", seufze ich und konzentriere mich wieder, aber es klappt nicht mehr so gut wie vorher.

"Also, wie gesagt. Du läufst auf einen kleinen Pfad durch einen Wald. Aber deine Flügel stören. Sie hindern dich am vorrankommen. Stell dir vor, deine Flügel wären jetzt nicht mehr da. Einfach weg." Mir schießt das Bild von Menschen durch den Kopf. Wie sie so ganz ohne Flügel durch das Leben gehen. "Mia? Mia!" Ich höre eine wütende Stimme. Als ich die Augen aufmache, blickt Thea mich wütend an. "Hm?", frage ich abwesend. "Konzertiere dich!" Ich schüttle den Kopf, um meine unnötigen Gedanken zu vertreiben und konzentriere mich wieder. Ich stelle mir vor, wie ich durch den Wald hetze und sich meine Flügel in den Ästen verfangen. "Sie stören. Sie stören.", sage ich in meinen Gedanken. Aber so sehr ich es auch versuche, meine Flügel bleiben so wie sie sind.

"Mia, du musst dir vorstellen, wie sie verschwinden. Willst du, dass ich es dir vorzeige?", bietet sie schließlich an. Ich nicke erleichtert. Das könnte wirklich helfen. Also beobachte ich gespannt ihre Flügel. Plötzlich fangen sie an der Spitze an, sich aufzulösen. Das geht immer weiter, bis sie irgendwann vollkommen verschwunden sind. "Das nennst du einfalten?", frage ich, bin allerdings zu tiefst fasziniert. "Du kannst es auch verschwinden nennen. Das tut aber nichts zur Sache. Glaubst du, dass du das schaffst?" Da ich es wirklich nicht weiß, zucke ich mit den Schultern. Aber ich schließe wieder meine Augen. Ich renne durch den Wald. Meine Flügel müssen verschwinden! Einfach unsichtbar werden. Das kann doch nicht so schwer sein! Plötzlich spüre ich ein Kribbeln, was sich von den Flügeln aus in meinen ganzen Körper verteilt. Ich renne noch immer durch Wald, bleibe aber stehen. Ein Blick über die Schulter, lässt mein Herz höher schlagen. An den Enden sind sie schon unsichtbar. "Thea!", rufe ich glücklich. "Ich sehe es.", lächelt sie und ich öffne meine Augen. Meine Flügel lösen sich tatsächlich auf! Plötzlich hört es auf und sie erscheinen langsam wieder. Verwirrt blicke ich Thea an. "Keine Sorge. Bei die ersten paar Male verschwindet der Flügel noch nicht ganz. Es braucht viel Konzentration. Aber für den das erste Mal war es wirklich gut.", lobt sie mich. "Ich muss es aber perfekt beherrschen!", meine ich. Sie lacht. "Du musst dich noch ein wenig gedulden. Der Prozess gelingt nicht innerhalb von ein paar Minuten." "Wie lang bleiben wir hier?", frage ich neugierig, da sie das als Seherin ja weiß. "Du wirst auch danach nicht zum Rat gehen.", sagt sie mir, als hätte sie meine Gedanken gelesen. "Doch! Natürlich! Für was lerne ich denn das alles sonst?", frage ich gereizt. "Du wirst es sehen. Und nachdem wir fertig sind, wirst du selbst nicht mehr zum Rat gehen wollen, da du die Alternative besser findest."

Ich schnaube. "Das glaubst du wirklich?" "Ich weiß es.", sagt sie sicher. "Wie lang hast du vor, uns hier zu behalten?", frage ich skeptisch. "Zwei Wochen und drei Tage.", antwortet sie so selbstsicher, dass ich schmunzeln muss. "Und was machen wir bis dahin?", grinse ich. "Lass dich überraschen.", zwinkert sie mir zu. "Willst du etwas essen?", wechselt sie das Thema. "Was warum? Wir haben doch erst gefrühstückt.", erwidere ich mit zusammen gezogenen Augenbrauen. Thea lacht und zeigt in den Himmel. Die Sonne steht im Zenit. "Die Zeit vergeht beim Trainieren der Kräfte viel schneller." Es macht zwar keinen Sinn, aber ich habe Hunger und der Sonnenstand lügt nicht. "Gut. Lass uns essen gehen.", stimme ich zu. Also schlendern wir den kleinen Trampelpfad hinauf zu der kleinen Hütte. Nach dem Essen, zu dem es Burger gab, gibt mir Thea noch eine Stunde Zeit, bis wir mit dem geheimnisvollen Training weitermachen. Ich weiß genau, wie ich die Zeit nutzen werde. "Leon? Kommst du mit?", rufe ich und springe vom Tisch auf. Er zuckt mit den Schultern und schläft mir hinterher.

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