zwei

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Mia

"Scheuch ihn weg! Bitte!", bettle ich Xaver an. "Mia.", ruft er mit fester Stimme und versucht mich so zu beruhigen. "Sieh mich an." Meine Augen wandern zu seinem Gesicht. "Da ist niemand.", wiederholt er eindringlich. "Ich weiß.", flüstere ich. "Aber er sieht so real aus." Mein Blick gleitet an ihn vorbei und da steht er schon wieder. Sofort fange ich an zu schreien und zeige auf Leon. Xaver dreht sich um. "Da ist niemand.", erklärt er erneut. Langsam kommt Leon auf mich zu. Ein schüchternes Lächeln umspielt seine Lippen. Ich weiche immer weiter zurück und strecke meine Arme schützend nach vorne aus. "Lächle mich nicht so an! Verschwinde! Geh weg!", kreische ich. "Ich will dir doch nur helfen!", flüstert er. Seine Stimme, seine Lippen und seine Haare, sie machen mich verrückt! Tief in meinem Inneren weiß ich, dass er nicht hier ist, doch er scheint so real. "Du bist nicht hier!", schreie ich. Xaver sieht mich erschrocken an. "Ich bin nicht verrückt!", flüstere ich. "Mia.", sagt Leon und streckt nun auch seine Arme nach mir aus. Deshalb verschränke ich meine Arme vor meiner Brust, obwohl ich nichts lieber tun würde, als sie zu nehmen und mich an seinen großen Körper zu schmiegen. "Geh weg!", bitte ich noch ein letztes Mal. "Das kann ich nicht. Ich bin ein Teil von dir. Und der werde ich immer sein." Aus seinem Mund klingt das wie eine Drohung. "Aber du machst mich verrückt. Du bist ihm so ähnlich, aber dennoch bist du nicht real!" "Ich weiß. Aber du brauchst jemanden zum Reden.", antwortet er. "Ich will nicht mit dir reden." "Warum?" Leon scheint wirklich verwirrt zu sein. "Ich habe dich nicht retten können!", schluchze ich. „Dein Tod war meine Schuld. Und das werde ich mir nie vergeben.", flüstere ich während mir Tränen über die Wange rinnen. "Leons Tod war nicht deine Schuld!", bemerkt Xaver. "Doch.", wende ich mich nun an ihn. "Wäre ich nicht gewesen, würde er nun ein glückliches Leben führen." Traurig sieht er mich an. "Was ist überhaupt passiert?", fragt er mich neugierig. "Ich weiß es nicht.", beichte ich ihm. "Du solltest dich ausruhen.", rät Xaver mir. "Aber er geht nicht weg!", keuche ich. "Mia, vertrau mir. Da ist niemand. Atme tief durch und er wird verschwinden." Ich folge seinen Anweisungen. Langsam schließe ich meine Augen. Doch Leon verschwindet nicht. Er ist auch hinter meinen Liedern. "Ich verschwinde nicht, wenn du deine Augen schließt.", höre ich eine Stimme in meinem Kopf. Geschockt reiße ich die Augen auf. Was eine schlechte Idee war, denn sein Gesicht ist nur ein paar Zentimeter von meinem entfernt. Seine großen Augen mustern mein Gesicht. "Wie gern würde ich dich jetzt küssen.", haucht er. Ich schüttle energisch den Kopf, doch er beugt sich vor und in dem Moment, als sich eigentlich unsere Lippen berühren sollten, fällt er einfach durch mich hindurch. Sofort wird meine Atmung schneller und ich fange hysterisch an zu schreien. Plötzlich spüre ich einen Stich und ich reiße meine Augen auf. Xaver hält eine Spritze in der Hand. "Es lässt dich ein paar Stunden schlafen.", sagt er. "Danke.", lächle ich und schon kann ich spüren wie das Mittel wirkt, denn es wird alles schwarz.

Ich schrecke auf und merke, dass ich wieder im Bett liege. Zu meiner Überraschung hat die Spritze wirklich geholfen und ich habe ruhig geschlafen. "Morgen.", begrüßt mich jemand. Erschrocken schreie ich auf. Leon hebt seine Hände. "Ich bin es nur.", will er mich beruhigen, aber es bewirkt genau das Gegenteil. "Warum willst du nicht verschwinden?", frage ich leise. "Das kann ich nicht." "Warum?", frage ich kopfschüttelnd. "Weil ich dich liebe." Geschockt starre ich ihn an. "Du bist nicht real. Tot. Zu Tode geblutet. Weg für immer.", flüstere ich einige Male, bis ich von dem Geräusch einer öffnenden Tür gestoppt werde. "Wenn du willst, kannst du mit mir kommen.", bietet sie mir an. "Warum?", frage ich verwirrt und wende meinen Blick von Leon ab. "Wir wissen immer noch nicht, was vor einer Woche passiert ist. Du könntest helfen einige Dinge zu entschlüsseln." "Ich werde mein Bestes geben, aber leider weiß ich so viel wie ihr.", stimme ich zu, weiß aber noch nicht, ob ich bereit bin, darüber zu reden. Lächelnd nickt sie und hält mir die Tür auf. Schnell steige ich aus dem Bett und schließe zur Frau auf. Sie führt mich durch dunkle Gänge und über Treppen. "Du siehst ihn, hab ich recht?", fragt sie plötzlich unvermittelt. Ich starre sie an und beiße die Zähne aufeinander. "Ja.", presse ich hervor. "Er hat dir etwas bedeutet.", schlussfolgert sie nun. "Natürlich.", rufe ich sofort, vielleicht etwas zu laut. "Er war der wichtigste Mensch in meinem Leben. Ich wäre für ihn gestorben. Doch jetzt ist er für mich gestorben.", fahre ich mit gedämpfter Stimme fort. Darauf antwortet sie nichts mehr, sondern beschleunigt ihre Schritte. Irgendwann kommen wir in einen großen Raum, in dessen Mitte ein Tisch steht und einige Menschen murmeln leise miteinander. Als ich über die Schwelle trete, blicken sie gleichzeitig auf und mustern mich teils interessiert, teils ängstlich. Xaver ist unter ihnen und als er meinen Blick bemerkt, nickt er mir aufmunternd zu. Er ist auch derjenige, der als erstes anfängt zu reden. "Vor einer Woche wurdest du entführt. Von einem Mann, der eine Gruppe Räuber anführt. Sie verschleppten dich in ihr Dorf. Leon war am Boden zerstört, doch ohne zu zögern war er bereit dich zu retten.", fängt er an und die emotionslose Stimme, erschüttert mich. Ohne zu zögern war er bereit dich zu retten. Sofort spüre ich, wie Tränen in meine Augen treten, doch ich versuche sie so gut es geht zurückzuhalten. Plötzlich höre ich Rufe von draußen und verwirrt wende ich meinen Kopf. Auch alle anderen scheinen ihre Aufmerksamkeit auf die Tür zu richten. Im nächsten Moment taucht eine Person im Rahmen auf. Erschrocken kreische ich auf. Zuerst huschen seine Augen über die kleine Gruppe an Menschen, bis er bei mir angekommen ist. Meine Finger krallen sich an die Stuhllehne, als seine gelb schimmernden Augen über mein Gesicht huschen und ich es fast wie eine Berührung wahrnehme. "Er ist wieder da.", flüstere ich panisch. Es herrscht Totenstille. "Mia?" Seine Stimme zittert und er sieht aus, als würde er gleich anfangen vor Freude zu weinen. "Geh weg!", knurre ich kalt und starre ihn abwertend an. „Ich verstehe nicht.", erwidert er verwirrt und wendet sich verzweifelt um, doch alle starren ihn nur gebannt an. „Verschwinde! Sofort!" Ich kann sehen, wie ihn die Worte wie ein Messer in die Brust treffen. "Du hast mich geküsst! Ich dachte, du willst, dass ich dich beschütze." "Nein! Ich habe dich nicht geküsst, sondern den Leon, der jetzt tot ist!" Seine Augenbrauen schnellen in die Höhe. „Ich bin nicht tot und auch keine Halluzination. Du hast mich geküsst, bevor du mitgenommen wurdest. Weißt du nicht mehr?" „Lass mich ihn in Ruhe.", schreie ich und schlinge meine Arme um meinen Oberkörper. Langsam löse ich meinen Blick von Leon und wende mich zu Xaver. Doch er schenkt mir keine Aufmerksamkeit. Stattdessen starrt er Leon an. Das lässt mich stutzen. Er kann ihn sehen? "Was ist hier los?", frage ich und es gelingt mir nicht, die aufkommende Panik in meine Stimme zu unterdrücken. Ich herbe mich aus dem Stuhl, den Blick wieder auf Leon. Er tritt einen Schritt nach vorne und stößt dabei einen Stapel Papier, der auf dem Tisch liegt. Sofort fallen die Blätter zu Boden und fliegen in alle Richtungen. Etwas was nicht existiert, kann nichts hinunterschmeißen. Versteinert bleibe ich stehen als er langsam auf mich zukommt. "Darf ich dich umarmen?", fragt er vorsichtig. "Du bist nicht real. Du bist nur in meinem Kopf!", flüstere ich. Verzweifelt fährt er sich durch die Haare.

Plötzlich streckt er die Hand aus und greift nach meiner. Schnell ziehe ich sie weg und stolpere weiter nach hinten. Plötzlich bohrt sich eine Wand in meinen Rücken, aber ich stemme mich dagegen, um möglichst weit von Leon weg zu sein. "Verschwinde.", flehe ich ihn an. "Ich bin es doch!", flüstert er und die ersten Tränen rinnen ihm über die Wangen. "Nein. Denn wenn du es wirklich wärst, dann hättest du sofort nach mir gesucht. Wärst neben meinem Bett gesessen, als ich aufgewacht bin. Du hättest mich beschützt. Doch du warst nicht da!", flüstere ich. "Ich kann-", fängt er an, doch ich lasse ihn nicht Ausreden. „Du gehst mir jetzt aus dem Weg, oder ich gehe einfach durch dich hindurch.", drohe ich ihm. "Durch mich hindurch?", fragt er verwirrt. Ohne zu zögern stoße ich mich von der Wand ab und gehe schnell auf ihn zu. Er bleibt einfach stehen. Nur noch einen Meter. Einen Schritt, den ich schnell hinter mich bringe. Plötzlich knalle ich gegen seine Brust und taumle zurück. Auch Leon macht ein paar Schritte zurück, um den Schwung des Aufpralls abzufangen. Mir laufen Tränen über die Wangen. Er geht zu mir und seine Finger berühren meine Wange. Seine Haut liegt auf meiner und meine Tränen werden von seinen großen Fingern aufgefangen. "Glaubst du mir jetzt?", fragt er, mit sanfter Stimme und noch sanfteren Gesichtsausdruck. Ich stehe einfach nur da und starre ihn an. Seine Hand ruht noch immer auf meinem Gesicht. Er ist real. Er ist real! Dieser Satz hallt in meinem Kopf wieder. "Du warst nicht da, als ich aufgewacht bin. Du hast mich im Stich gelassen.", stottere ich. Verzweifelt sieht er mich an, doch ich schüttle den Kopf und stürme an ihm vorbei. Aus dem Raum, zurück in den langen Gang, in dem ich schon hergekommen bin. Dann laufe ich nach rechts. Überall sind Türen und die Flure scheinen nicht zu enden. Hinter mir kann ich Stimmen hören. "Mia! Bleib stehen. Bitte!" Leons Stimme. Ohne mich umzudrehen laufe ich weiter. Plötzlich bleibe ich stehen und reiße eine Tür auf. Schnell schlüpfe ich hinein und knalle sie hinter mir zu. "Er lebt. Oder war das wieder nur eine Halluzination? Schlafe ich etwa noch? Ich blicke mich im Raum um. Es ist dämmrig aber vor mir erstrecken sich Bildschirme, die alle hell leuchten. Davor steht ein Schaltpult. Langsam gehe ich darauf zu. Plötzlich flackern alle Monitore auf und auf jedem Bildschirm erscheint ein Bild. Eines zeigt eine Stadt, ein anderes Straßen und Märkte. Doch eines fällt mir sofort auf. Es ist eine Zelle, deren Türen verbogen in den Angeln hängen. Doch im Inneren ist niemand mehr. In der rechten oberen Ecke sehe ich eine Zahl. 45. Als ich einen Blick auf das Pult werfe, erkenne ich einen Knopf mit derselben Zahl. Vorsichtig drücke ich darauf.

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