eins

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Mia

"Wir gehen. Ich habe alles vorbereitet. Noch heute Abend. Meine Mutter ist nicht da und wir können in Ruhe verschwinden." "Mia...", stockend antwortet Emma mir. "Ich komme nicht mit!" Hat sie das gerade wirklich gesagt? Ich starre sie an. "Was? Du lässt mich im Stich? Ich rede immer über die Reise, die wir machen werden und du hörst mir einfach zu, ohne zu erwähnen, dass du eigentlich gar nicht mit willst?" "Ich würde dich nie im Stich lassen! Und ich dachte es wäre immer nur ein Traum von dir. Ich dachte, du würdest es nicht wirklich durchziehen!", erwidert sie leise. "Tja, hab ich aber! Und wenn du mich nicht im Stich lässt, dann komm mit!" "Ich kann nicht! Versteh doch!" "Nein tue ich nicht!", fauche ich sie mit meiner vor Wut zitternden Stimme an. "Ich habe Verpflichtungen, Prüfungen und eine Zukunft hier. Wenn ich mit dir komme, verlasse ich das alles und werfe es weg. Das will ich nicht!" "Bist du denn gar nicht neugierig?" "Natürlich bin ich neugierig! Aber meine Ungewissheit und Angst sind stärker! Vielleicht sind wir naiv, aber unser Leben ist doch gut so wie es ist oder?" "Nein! Der Rat vertuscht etwas und ich will endlich selber herausfinden, was da ist. Ob es noch etwas anderes außer dem Wald gibt! Noch andere Lebewesen bis auf uns und den Fairys." Emma schüttelt den Kopf. "Tut mir leid. Ich komme nicht mit." Ich schnaube und spucke ihr die Worte "Ich gehe, ob mit oder ohne dich!" entgegen.

Nach dem Streit mit Emma bin ich nach Hause geflogen, um die restlichen Vorkehrungen zu treffen. Ich musste mich zuerst ein paar Minuten beruhigen, bevor ich den Brief für meine Mutter schrieb. Wenn ich ihr persönlich sagen würde, dass ich fortgehe, würde ich weich werden und hier bleiben. Also ist das die einzige in Betracht zu ziehende Lösung. Nun ist es kurz vor Mitternacht. Ich stehe vor meinem Fenster und sehe wie das Mondlicht schwach durch die Blätter hindurchscheint. Ich mache die Tür auf und trete auf den Balkon. Seufzend beobachte ich meine Umgebung, die so friedlich vor mir liegt. Und das will ich verlassen? Diese Frage quält mich schon seit Stunden. Aber mein Beschluss steht fest. Und vielleicht komme ich eines Tages zurück und stehe genau hier, auf diesen Brettern. Dann denke ich mir, wie wunderschön es ist. Der Unterschied zu jetzt wäre, dass ich dann weiß, dass es nichts Schöneres gibt. Ein Knacken reißt mich aus meinen Gedanken. Mein Blick huscht hektisch durch die Blätter und ich erblicke Emma, die auf einem Ast sitzt.

"Du hast dich also doch unentschieden!", begrüße ich sie erleichtert. Sie gleitet auf meinen Balkon. Ihre Flügel schimmern schwach im Licht. "Ich...Es tut mir leid. Nein, habe ich nicht. Nur wollte ich dich nicht gehen lassen, ohne mich zu verabschieden." Mein Herz wird schwer, aber ich versuche sie anzulächeln. "Hör zu. Auch für mich ist es schwer. Ich werde dich vermissen. Jeden Tag werde ich auf den Himmel blicken und mich fragen, wann du wiederkommst. Aber ich werde nicht traurig über dein Gehen sein. Viel eher werde ich auf deine Geschichten warten und mich für dich freuen, dass du so mutig bist und das alles durchziehst." Sie lächelt mich an. Meine Hände schlingen sich automatisch um ihren Hals. "Du hast keine Ahnung wie sehr ich dich vermissen werde!", flüstere ich. Etwas Nasses berührt meine Wange. Ich löse mich von ihr und sehe, wie Tränen ihr die Wange herunter rinnen. Mit einer schnellen Handbewegung wische ich sie ihr von der Wange. "Ich komme zurück. Versprochen.", sage ich ihr. "Niemand weiß was dort draußen ist. Aber wenn jemand damit fertig wird, dann du.", ermutigt sie mich. Verlegen schaue ich auf meine Füße. Sie glaubt an mich. "Du erzählst mir alles, okay?", fordert sie auf und lächelt mich an. "Du bist die erste, die die Geschichte zu hören bekommt.", verspreche ich ihr. "Bis bald!" "Wiedersehen!", flüstere ich ihr ins Ohr und klettere dann aufs Geländer. Ich blicke noch ein letztes Mal zu Emma, dann springe ich von der Brüstung des Balkons. Ich spüre die Luft, die um meine Haut peitscht und wie der Boden immer weiter auf mich zurast. Kurz bevor ich aufschlagen würde, breite ich meine Flügel aus und schwinge mich mit kräftigen Flügelschlägen in Richtung Himmel.

Als ich durch die Baumkronen breche, sehe ich den Himmel über mir und unter mir, die schwarzen Bäume. Die Sterne blinken hell und heben sich dadurch sehr vom dunklen Himmelszelt ab. Es ist die schönste Nacht seit langem. Oder es ist einfach der Gedanke an Freiheit, der alles verschönert. Ich bin an niemanden gebunden. Niemand der mich herumkommandiert. Mir sagt, dass ich dieses oder jenes nicht machen darf. Keiner weiß, was vor mir liegt. Wie lange meine Reise dauern wird. Aber egal, was jetzt passieren wird, ich bin frei.

FairytaleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt