05. Über Sie

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Mia

Hinter der Tür befindet sich ein langer Gang, der durch Fackeln beleuchtet wird. Wir steigen Steinstufen hinauf, um oben in einem großen Raum zu kommen, in dem es so hell ist, dass ich mir die Hände vor meine Augen halte muss. Durch die hohen Fenster erkenne ich die Landschaft, die mich mein ganzes Leben begleitet hat. Ein riesiger Wald, der sich bis zum Horizont erstreckt. "Wie lang habe ich geschlafen?" "Etwa fünf Tage." Ich wirble herum und starre ihn an. "Fünf Tage?", frage ich fassungslos. Er zuckt mit den Schultern und erwidert nichts. "Komm jetzt.", fordert er mich nach einer Weile auf.

"Deine Flügel.", sagt er dann, als hätte er sich doch dazu entschieden zuerst mit mir zu reden, bevor wir weitergehen. "Was ist mit ihnen?", frage ich skeptisch. "Sie sind in zwei Hälften geteilt worden. Und wir haben sie nicht behandeln können." Ich denke an den Moment zurück, als ich panisch über meine Schulter sah, und voller Erleichterung bemerke, dass sie nicht angerührt worden sind. "Sie heilen von selbst."

Er starrt mich an. "Sie...heilen sich selber?", fragt er mich vollkommen überrascht. "Ja?", lache ich und muss über seine Unwissenheit lächeln. "Wie funktioniert es?", fragt er sofort "Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass sie sich selbst heilen, aber nur, wenn sie nicht durch irgendein Heilmittel beeinflusst werden. Das heißt, das ihr sie nicht behandelt habt, war das beste was ihr hättet tun können." "Was passiert, wenn man sie doch behandelt?", bohrt er weiter. Ich schlucke. "Man müsste sie nähen. Sie wären nie wieder so wie früher, und die Schmerzen sind zehn Mal schlimmer, als du es dir vorstellen könntest." "Wie lange dauert die Heilung?", folgt die nächste Frage. "Ich beantworte dir diese Frage nur, wenn du mir auch meine beantwortest!", sage ich herausfordernd. Er überlegt und nickt dann. "Also: Wohin bringst du mich?" "Zu unserem Anführer." "Und danach?" "Eine Frage eine Antwort. Also wie lange dauert es?" "Die Heilung? Etwa ein bis zwei Wochen.", antworte ich. "Kannst du so fliegen? Oder musst du warten bis sie wieder geheilt sind?" "Noch eine Frage?", lache ich. "Jetzt darf ich dir auch noch eine stellen!" Als er seinen Fehler bemerkt, verzieht er das Gesicht. "Okay.", willigt er ein. "Also. Was passiert, nachdem ich bei deinem Anführer war?" "Du wirst zu ihr gebracht!" "Zu ihr? Das ist keine Antwort!", rufe ich aufgebracht. "Doch! Niemand, bis auf unsere Älteste weiß, wie sie heißt." Ich schlucke. "Du musst jetzt meine beantworten." Er reißt mich aus meinen Gedanken, in denen ich gegen eine namenlose Kreatur kämpfen muss. Was soll ich mir unter Ihr vorstellen und was soll ich dort?

"Hm? Ah ja. Ich muss warten bis sie vollständig geheilt sind." "Darf ich noch eine Frage stellen?", frage ich vorsichtig. Er überlegt. "Mhm." Ich lächle und frage, obwohl ich die Antwort eigentlich gar nicht wissen will. "Wie sieht sie aus?" "Auch das weiß niemand.", antwortet er leise. "Aber du musst irgendetwas schlimmes getan haben, damit du zu ihr kommst." Ich starre ihn an. Was habe ich getan um so eine Strafe zu bekommen? „Komm jetzt.", sagt er freundlicher als zuvor.

Benommen trotte ich hinter ihm her. Ist es wirklich so schlimm? Was wird sie mit mir machen? Und was soll ich getan haben, damit ich zu ihr komme? Ich blicke auf, und bemerke, dass ich in einem großen Saal stehe. An der großen Tafel, die mitten im Raum steht, sitzt ein alter Mann. Er hat graue Haare, aber seine Augen, sind, wie bei allen hier, gelb. Allerdings sehen sie keineswegs alt und müde aus, sondern sie folgen mir aufmerksam, als ich mich ans Ende der Tafel setze. "Das Schicksal hat dich hierher gebracht!", sagt er und ohne auf meine Reaktion zu warten, fährt er fort. "Du hast uns Essen geschenkt. Und deshalb wirst du zu ihr geschickt. Außerdem seid ihr euch sehr ähnlich, und deshalb wird sie am besten wissen, was du als nächstes tun solltest." Verwirrt huschen meine Augen durch den Raum. Ich soll ihr ähnlich sein? Einem namenlosen und gestaltlosen Monster? "Und Leon wird dich begleiten", erklärt er und zeigt auf jemanden hinter mir. Ich drehe mich um und starre auf den Jungen, der mich aus der Zelle geholt hat. "Nein!", sage ich bestimmt. "Wenn es mein Schicksal ist, muss ich allein zu ihr gehen!" Was rede ich da? Ich glaube ja nicht einmal an Schicksal. Aber ich brauche ja irgendeinen Grund um ihn zu überzeugen, also nehme ich alles, was ich bekommen kann.

Der alte Mann überlegt. "Du solltest aber eine Begleitung mit dir nehmen! Es ist ein Tagesmarsch bis zu ihrer Unterkunft. Du bekommst natürlich ein Pferd, aber man kann nie vorsichtig genug sein!" "Nein danke! Ich komme selber dorthin. Sie müssen mir keinen Babysitter geben!" Zu meiner Überraschung willigt er ein. "Dann wirst du jetzt losreiten. Du bist bis zum Anbruch der Dunkelheit dort." Ich lächle. Warte. Sollte ich mich freuen? Oder soll ich Angst haben? Ich beschließe, ohne Vorurteile zu ihr zu gehen, denn warum soll ich mir über etwas Gedanken machen, was vielleicht oder vielleicht auch nicht, böse ist. Und außerdem: reiten? Auf einem richtigen Pferd? "Komm!", raunt eine tiefe Stimme in mein Ohr. Langsam stehe ich auf und folge einem kleinen, muskulösen Mann. Ich werfe noch einen letzten Blick in die große Halle, wo gerade Leon, der blonde, große Junge, neben dem Alten steht.

Dann werden die schweren Türen zugeschlagen. Der Mannund ich gehen durch kalte, dunkele Tunnel und kommen schlussendlich in einem großenStall an. Während der Mann ein Pferd sattelt, sehe ich mich um. Überall stehendiese großen Tiere. Sie wirken arrogant, wie sie ihren Kopf heben und mit denHufen über den Boden schrappen. Gleichzeitig wirken sie aber auch freundlich."Hier! Das ist Devoid.", sagt er und legt eine Tasche über den Rückendes Pferdes. "Da ist ein Happen zu Essen und Wasser drin.""Danke.", antworte ich unschlüssig. "Folge der Straße.Irgendwann kommt eine Abzweigung. Du bleibst auf dem Hauptweg. Etwas später wirdeine zweite kommen. Dort wirst du abbiegen. Folgst du diesen immer weiterkommst du zu ihr. Und pass auf, dass du dich nicht verirrst. Der Pfad wird zumSchluss so eng, dass du vom Pferd absteigen musst, und die letzten Meter zu Fußbewältigen musst. Viel Glück." Ich lächle. "Das schaffe ich. Dankedir." Er nickt und verschwindet dann. Ich mustere mein Pferd. Es ist großund schwarz. Ungeduldig kratzen seine Hufe über den harten Steinboden. SeineMuskeln zucken und sein Fell schimmert wunderschön im Licht. Er wirft seinen Kopfin die Höhe, und seine Mähne fliegt durch die Luft. Es ist unglaublich, dass soeine wunderschöne Kreatur, im selben Universum, wie das Hundeding leben kann.

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