Kapitel 370

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„Werter Vorsitzender, werte Richter, wertes Publikum. Seit dem ersten Tag dieser Verhandlung hat der Verteidiger alle Register gezogen, um Sie und mich davon zu überzeugen, dass Tobio ein Psychopath sei; ein Mensch ohne einen Hauch von Empathie, ohne jegliche soziale Verantwortung, ohne den geringsten Anflug eines Gewissens. Tobios einziger Lebensinhalt sei es, die Menschen in seinem Umfeld so zu manipulieren, dass er sie wie Marionetten ganz nach seinem Belieben tanzen lassen kann." Fujisawa ließ seine Worte mehrere Sekunden lang in das Bewusstsein der Leute sinken. Als das Schweigen belastend zu werden drohte, wandte er sich zu Tobio um. „Und jetzt, sehr geehrte Damen und Herren, schauen Sie ihn sich an; schauen Sie sich Tobio ganz genau an und sagen Sie mir dann, dass dieser unschuldige Junge mit seinen strahlend blauen Augen aussieht wie ein eiskalt berechnender Psychopath."

Tobios Puls schoss in die Höhe. Was zur Hölle tat der Staatsanwalt denn da?! Hatte zuvor vielleicht irgendjemand der Anwesenden in Gedanken versunken woanders hingeschaut, so stand nun zweifelsfrei fest, dass wirklich ALLE Augenpaare in diesem Raum auf ihn gerichtet waren. Und das, wo er doch so furchtbar gerne im Mittelpunkt stand! Er spürte, wie die Blicke der Leute auf ihm lagen, wie sie ihn taxierten und in seine Seele hineinzuschauen versuchten – ganz so, wie Fujisawa es von ihnen verlangt hatte. Und je länger sie dies taten, desto rasanter wandelte sich die Unruhe in ihm zu einer quälenden Überspanntheit, zu einem unerträglich heißen Fieber. Am liebsten wäre er aufgesprungen und aus dem Saal gestürmt, doch dies hätte ihm nur noch mehr ungewollte Aufmerksamkeit eingebracht.

„Nun", erklang nach einer gefühlten Ewigkeit erneut Fujisawas ruhige Stimme, „haben Sie auch so große Schwierigkeiten wie ich, den Psychopathen in Tobio zu entdecken?"

Wieder wurde der große Sitzungssaal von Stille gefüllt. „Hm, ja, das dachte ich mir. Aber wissen Sie was? Das wundert mich kein bisschen, denn Tobio IST KEIN Psychopath. Er ist nicht der Täter, er ist das Opfer." Fujisawa machte eine Pause, ehe er mit Nachdruck hinzufügte: „Tobio. Ist. Das. Opfer."

Die Abwesenheit jeglicher Geräusche schickte Schauer Tobios Wirbelsäule hinab. Sie erinnerte ihn an das große Haus in Miyagi und die kalte Leere, die ihn jedes Mal empfangen hatte, wenn er ‚nach Hause' gekommen war. Das selbst seine Eltern ebenso wie Oikawa, Kunimi und Kindaichi mit geschlossenen Lippen dem Staatsanwalt lauschten, machte die Situation sogar noch unheimlicher.

„Kinder sollten geliebt werden", sagte der Staatsanwalt, um sich in der nächsten Sekunde direkt selbst zu verbessern. „Nein, sie MÜSSEN geliebt werden, denn für eine gesunde Entwicklung – geistig wie körperlich – brauchen Kinder vor allem eines: ganz viel Liebe. Besonders in den ersten Lebensjahren sind sie auf Wärme und Geborgenheit angewiesen. Schenken wir Kindern beständige Zuneigung, fühlen sie sich wahrgenommen und geliebt und sie wachsen zu starken, selbstbewussten und empathischen Menschen heran."

„Wird einem Kind diese so dringend benötigte Liebe verwehrt, ist es zu einem Leben voller Selbstzweifel, Unsicherheiten und Angst verdammt, denn ihm fehlt das sogenannte Urvertrauen, auf dem es seine zukünftigen Freundschaften und Beziehungen aufbauen kann. Es hat nicht gelernt, dass Menschen und auch das Leben selbst gut und wohlwollend sind. Dieses fehlende Fundament lässt sich nachträglich nicht mehr errichten. Stattdessen leiden sie ein Leben lang unter fehlendem oder geringem Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen, unter einem starken Gefühl der Unsicherheit gegenüber sich selbst und anderen Menschen, unter Angststörungen und übertriebener Ängstlichkeit. Sie sind verschlossen, misstrauisch, haben Angst vor Zurückweisung und große Schwierigkeiten, was die Kontrolle ihrer Emotionen angeht. Sie fühlen sich einsam und isoliert und minderwertig. Und diese Aufzählung könnte ich gut und gerne noch eine Stunde fortsetzen, aber Sie dürften bereits bemerkt haben, worauf ich hinauswill: Eltern, die ihren Kindern keine Liebe schenken, berauben sie ihrer Chance, ein glückliches und unbeschwertes Leben zu führen, stattdessen verurteilen sie sie zu einem erst mit dem Tod endenden Kampf, sich in dieser Welt zurechtzufinden und einen Platz in ihr zu finden. Und genau diesem Verbrechen haben sich Suzume und Masato Kageyama an ihrem Sohn schuldig gemacht."

Rivalität mit Folgen [Teil 2]Where stories live. Discover now