Kapitel 335

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„Die Verteidigung ruft als nächstes Frau Mei Hirai in den Zeugenstand."

Aus dem Publikum erhob sich eine leicht pummelige Frau mittleren Alters. Ihr ehemals vermutlich freundliches Gesicht war inzwischen verhärtet und ließ von ihrer einstigen Anmut nur erahnen. Tobio hatte keine Ahnung, wer diese Frau war, die den Blickkontakt mit ihm tunlichst mied, während sie ihren Körper nach vorne schob und sich auf den Stuhl setzte, auf welchem er vor wenigen Sekunden noch gesessen hatte. Die Belehrung des Vorsitzenden nahm er nur am Rande seines Bewusstseins wahr, während er angestrengt darüber nachdachte, wer diese Frau war.

„Frau Hirai, würden Sie dem Gericht und mir bitte kurz erläutern, was sie beruflich machen?", bat der Verteidiger höflich.

„Ich bin seit nun mehr 32 Jahren Sozialarbeiterin", antwortete Frau Hirai knapp.

Erinnerungen aus der Vergangenheit strömten in Tobios Gedächtnis. Ihm war, als wäre es erst gestern gewesen, dass seine Eltern von einem Tag auf den anderen plötzlich lieb zu ihm geworden waren und ihn zum fröhlichsten Kind der Welt gemacht hatten. Sein Glück war jedoch nur von kurzer Dauer gewesen.

„Sie waren unter anderem für die Familie Kageyama zuständig, richtig?"

„Das ist korrekt."

„Können Sie uns von Ihren Besuchen bei den Kageyamas berichten?"

„Die Kageyamas wohnten in einem hübschen Haus, mit gepflegtem Garten und ordentlichen, sauberen Innenräumen. Ich habe Tobio als ein sehr aufgewecktes und heiteres Kind kennengelernt. Das bei Kindern in diesem Alter üblicherweise vorhandene Fremdeln mit unbekannten Menschen konnte ich bei Tobio nicht beobachten. Er hat mir sein Zimmer gezeigt und hat ganz aufgeregt davon berichtet, was er in den letzten Tagen mit seinen Eltern zusammen unternommen hatte."

„Am Ende ihrer Kontrollbesuche Sind sie dazu angehalten, Berichte zu schreiben. In einem davon führen Sie Folgendes aus: ‚Bei den Kageyamas lassen sich keinerlei Missstände feststellen. Ihr Sohn, Tobio Kageyama, befindet sind in bester gesundheitlicher Verfassung. Sein Auftreten gegenüber Fremden ist offen und freundlich. Es lassen sich an ihm keine Anzeichen von körperlicher oder geistiger Misshandlung feststellen.' Insgesamt haben Sie die Kageyamas drei Mal besucht: Haben Sie währenddessen jemals Grund zum Zweifeln an der eben vorgelesenen, von Ihnen verfassten Einschätzung gehabt?"

„Nein."

„Danke, keine weiteren Fragen", sagte Murakami und ging zurück auf seinen Platz.

In Tetsurou wirbelten die Gefühle umher wie in einem übersprudelnden Whirlpool. ‚Das bei Kindern in diesem Alter üblicherweise vorhandene Fremdeln mit unbekannten Menschen konnte ich bei Tobio nicht beobachten. [...] Sein Auftreten gegenüber Fremden ist offen und freundlich.' Zu dieser Zeit hatte Tobios Geist offenbar ‚nur' einen Knacks gehabt. Hätte die Sozialarbeiterin richtig hingeschaut und hätte sie Tobio zu dieser Zeit von seinen Eltern weggeholt, dann hätte Tobio eine ehrliche Chance gehabt, zu einem gesunden Jugendlichen heranzuwachsen. Zu hören, was für ein lieber, aufgeschlossener und lebensfroher Junge Tobio einst gewesen war und was seine Eltern aus diesem unschuldigen Wesen gemacht hatten, ließ ihn vor Trauer und Wut gleichermaßen vergehen.

Dr. Fujisawa erhob sich von seinem Platz und trat auf die Zeugin zu. „Frau Hirai, Sie haben uns berichtet, dass Sie seit inzwischen 32 Jahren als Sozialarbeiterin tätig sind."

„Ja."

„Gab es in dieser Zeit jemals personelle Engpässe?"

„Wir sind immer knapp an Personal", entgegnete Frau Hirai schnippisch.

„Wie schön, dass Sie so ehrlich sind", lobte Dr. Fujisawa, während er einen Stapel Papiere hinter seinem Rücken hervorholte. „Ich habe hier mehrere Belastungsanzeigen, die Sie während Ihrer Anstellung als Sozialarbeiterin ausgefüllt haben."

Rivalität mit Folgen [Teil 2]Where stories live. Discover now