Kapitel 344

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„Noch nicht."

Tobio sah verwundert zum Staatsanwalt, der ihm eine Hand auf den Unterarm gelegt hatte und ihn am Fortgehen hinderte.

„Warte kurz, bis deine Eltern nach draußen geführt worden sind", fügte Dr. Fujisawa hinzu, nachdem er die Fragezeichen über Tobios Kopf bemerkt hatte. „Sie werden für die Dauer der Pause in einen anderen Raum gebracht."

„Oh, j-ja..." Tobio sah instinktiv hinüber zu seinen Eltern, die sich auf Anweisung der Justizvollzugsbeamten von der Anklagebank erhoben. Der Moment, in dem Masato und Suzume die Handschellen umgelegt bekamen, schickte elektrische Stromstöße durch seine Nervenbahnen. Mit prickelnden Schauern, die seine Wirbelsäule hinabrieselten, verfolgte er, wie seine Eltern aus dem Raum geleitet wurden. Dabei trafen sich ihre Blicke, so, als hätten die zwei ganz genau gewusst, dass er sie beobachtete. Ein fieses Grinsen erschien auf ihren gehassten, leider nur allzu vertrauten Gesichtern. Er mahnte sich, Ruhe zu bewahren, doch die Frage, ob er in ein paar Tagen auch genau hier sitzen und dabei zuschauen würde, wie seine Eltern abgeführt wurden – nicht mehr gehässig grinsend, da für ihre Verbrechen verurteilt –, ließ sein Herz schneller schlagen. Zuversicht, Hoffnung und Bange wechselten sich so rasch ab wie der Sekundenzeiger auf der Uhr voranschritt.

„Jetzt kannst du", sagte Fujisawa. Sobald er den Arm des Jungen losgelassen hatte, stand dieser auf und verließ ohne ein weiteres Wort den Platz an seiner Seite. Eigentlich hatte er angenommen, dass Kageyama sofort zu Kuroo eilte, aber der Junge überraschte ihn heute auf ein Neues. Die erste Sitzungshälfte war zäh gewesen und für Tobio mit Sicherheit nicht leicht anzuschauen, wie seine Freunde von dem Verteidiger attackiert wurden, bis ihr Selbstvertrauen in sich zusammenbrach wie ein Kartenhaus.

„Hey", sprach Tobio mit sanfter Stimme seinen Schulfreund an, der noch immer zusammengesunken im Zeugenstand saß. Jetzt sah Lev auf, mit geröteten Augen, den Tränen nah.

„Oh, Tobio! Das wollte ich nicht!", rief Lev, umschlang den Schwarzhaarigen auf Höhe der Taille mit beiden Armen und drückte das Gesicht an dessen Bauch.

Tobio sah verdutzt auf den Halbrussen hinab. In letzter Zeit hatte er den traurigen, mutlosen Lev häufiger gesehen, als ihm lieb war. Einen Großteil der Freude und des Lächelns hatte Morisuke dem Grauhaarigen schon zurückgegeben, für den Rest war er jetzt zuständig. Vorsichtig, da etwas ungewohnt, legte er seine Arme um den schniefenden Jungen und strich ihm beruhigend über den Kopf.

Diese kleine Geste, die von einer gewissen Vertrautheit zeugte, war für Levs angespannte Nerven zu viel. Er musste seinen Gefühlen freien Lauf lassen, sonst würde er platzen. „D-Der Verteidiger wollte einfach keine Ruhe geben! Ich habe das nicht sagen wollen, ehrlich! Ich—"

„Schon okay, Lev, es gibt keinen Grund zum Weinen. Dich trifft keine Schuld. Murakami hat uns alle vorgeführt. Wir alle haben Dinge gesagt, die wir lieber hätten nicht sagen wollen. Also mach dich deswegen nicht fertig, okay?" Tobio konnte nur inständig hoffen, dass seine Worte von beruhigender Wirkung waren. Er war nicht wirklich gut darin, Leute zu trösten.

Lev verrenkte den Hals und sah zu seinem Klassenkameraden hinauf, die Wange noch immer fest gegen dessen Bauch geschmiegt. „D-Das heißt, du bist nicht sauer?"

Ein dünnes, jedoch warmes Lächeln umspielte Tobios Mundwinkel. „Nein, bin ich nicht. Wie könnte ich auch, nachdem du dich bereit erklärt hast, hier für mich auszusagen? Ich weiß, dass das viel Überwindung kostet. Also danke." Er konnte hautnah mitverfolgen, wie die Pein aus Levs Gesichtszügen verschwand und stattdessen die Sonne in dessen Gemüt zurückkehrte. Sie schien so strahlend hell, dass sie sogar dessen Tränen zum Glitzern brachte.

Nur Gott allein weiß, wie lange die zwei Jungs noch in dieser freundschaftlichen und tröstenden Umarmung verweilt wären, wenn nicht eine aufgebrachte Stimme sie auseinandergerissen hätte.

Rivalität mit Folgen [Teil 2]Where stories live. Discover now