Kapitel 342

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„Die Anklage ruft Sana Kojima in den Zeugenstand", verkündete Dr. Fujisawa.

Recht verdutzt folgte Tobio mit den Augen seiner ehemaligen Klassenkameradin, die sich für ihren Auftritt vor Gericht ganz besonders herausgeputzt hatte. Ihr langes, braunes Haar fiel in leichten Wellen auf die weiße Bluse, deren kurz gehaltene Ärmel mit Rüschen bestückt waren. Dazu trug sie eine schwarze, wie ein bodenlanger Rock anmutende Faltenhose.

„Hey", sagte Sana leise, ganz zart mit den Fingerspitzen ein Winken andeutend. Es gefiel ihr, dass Tobio sie auf ihrem Weg in den Zeugenstand ununterbrochen beobachtet hatte. Ihr stundenlanges Zurechtmachen hatte sich definitiv gelohnt. Sie durfte nach Ende dieses Verhandlungstages nicht die Chance verpassen, dieser aufdringlichen Chiyoko unter die Nase zu reiben, wie fasziniert Tobio sie angesehen hatte.

„H-Hey", flüsterte Tobio reflexartig zurück, überrascht von der unerwarteten direkten Begrüßung seiner ehemaligen Klassenkameradin.

Am liebsten hätte Sana vor Freude einen Jubelschrei ausgestoßen, doch die gegebenen Umstände verlangten nun Ernsthaftigkeit und ein vertrauenswürdiges Auftreten von ihr. Und genau das würde sie jetzt ihrem Schwarm zuliebe mit eiserner Entschlossenheit ausstrahlen. So erklärte sie dem vorsitzenden Richter mit fester Stimme, dass sie die Belehrung verstanden hatte, ehe sie sich mit aufmerksamer Miene dem Staatsanwalt zuwandte.

„Sana, kannst du bitte einmal kurz erklären, in welcher Beziehung du zu Tobio stehst?", bat Fujisawa.

„Tobio und ich, wir waren im selben Jahrgang auf der Karasuno-Oberschule in Miyagi, allerdings in unterschiedlichen Klassen", antwortete Sana kurz und bündig.

„Und trotzdem ihr nur in Parallelklassen wart, ist dir Tobio dennoch aufgefallen?"

„Direkt am ersten Schultag", platze Sana unverblümt heraus und ließ damit nicht nur bei einer Person im Sitzungssaal überrascht die Augenbrauen nach oben hüpfen. „Ich meine, schauen Sie ihn sich doch mal an", fuhr sie fort, dabei auf Tobio deutend, als würde ein Blick auf ihn einfach alles erklären.

Die Aufmerksamkeit, die Sana mit dieser Aussage auf Tobio projizierte, war ihm äußerst unangenehm und er begann, unruhig auf seinem Stuhl herumzurutschen. Sämtliche Anwesende musterten ihn so unverhohlen, so akribisch und kritisch, als wäre ihnen erst jetzt aufgefallen, dass er da war.

„Er ist groß, hat einen durchtrainierten Körper, dazu die blauen Augen und das seidig schwarze Haar: Wie sollte er einem da bitte nicht auffallen?", fragte Sana rhetorisch. „Er ist einfach... perfekt. Genau so stellt sich ein Mädchen ihren Traummann vor."

Tetsurous Mundwinkel zuckten gefährlich. In all den Monaten, die er nun schon mit Tobio zusammen war, war er sich der Reize, die dieser zu bieten hatte, mehr als nur bewusst geworden – sie hatten ihm den Kopf verdreht. Zu Tobios Vorzügen gehörte aber nicht nur sein attraktives Äußere. Nein, auch sein Charakter war von überaus einnehmender Natur. Er freute sich darauf, in Zukunft noch so einiges mehr an wundervollen Dingen an Tobio zu entdecken und kennenzulernen.

Dass Tobios Schönheit in all ihren Facetten nicht auch anderen Menschen auffiel, war komplett absurd. Die jüngsten Geschehnisse hatten dies ebenfalls mehr als deutlich gezeigt. Dennoch: So klar und deutlich dargelegt zu bekommen, wie Tobio auf das weibliche Geschlecht wirkte, wühlte ihn auf und weckte erneut seine Beschützerinstinkte. Er wollte den Jungen vor gierigen Blicken und übergriffigen Händen verbergen. Nur er sollte tagtäglich sehen dürfen, was für ein süßes, göttergleiches Geschöpf Tobio war. Ein vollkommen irrgeleiteter Gedanke, doch gleichzeitig ein so präsenter, bohrender und verlockender, dass er ihn so schnell nicht wieder loswurde. Leider kollidierte dieser jedoch knallhart mit seiner Herzensangelegenheit, Tobio alle Wunder und Schönheiten dieser Welt zu zeigen. Ein unlösbares Problem, welches zu einem Kurzschluss in seinen Synapsenverbindungen führte. Er zwang sich, diese aberwitzige Idee, die wohl weniger etwas mit dem Wunsch ‚zu beschützen' als mehr mit dem Wunsch ‚zu besitzen' zu tun hatte, weit von sich zu schieben und wieder dem aktuellen Geschehen beizuwohnen.

Rivalität mit Folgen [Teil 2]Nơi câu chuyện tồn tại. Hãy khám phá bây giờ