Kapitel 279

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Das Klopfen an der Wohnungstür brachte sämtliche Gedankengänge zum Erliegen. Unter den Anwesenden wurden flüchtige Blicke getauscht, dann erhob sich Momiji und ging hinüber in den Flur, begleitet von sechs Augenpaaren. So nervös wie in dem Moment, indem er seine Hand auf die Türklinke legte und diese herunterdrückte, war er schon lange nicht mehr gewesen. Auch als er die drei Polizisten entdeckte, die vor der Wohnung standen und ein vertrautes Bild abgaben, konnte er seine Aufregung nicht abschütteln. „Bitte, kommen Sie herein", sagte er erstaunlich gefasst und trat einen Schritt beiseite, um die Gäste hereinzulassen.

„Vielen Dank", sagten Minami, Nakamura und Takahashi beinahe gleichzeitig.

Der Anblick der drei Polizisten ließ Tobios Hoffnung aufblühen, doch gleichzeitig schürte er auch seine Angst.

„Hey, ich bin bei dir, okay? Es wird alles gut", sagte Tetsurou mit sanfter Stimme, während er behutsam Tobios Hand streichelte, die sich immer fester um seine zusammengezogen hatte.

Seiner Fähigkeit zu Sprechen beraubt, nickte Tobio nur. Gerne hätte er sich in den honigfarbenen Augen seines Freundes verloren, aber die Präsenz der ernst dreinschauenden Polizisten war so überwältigend, dass er von ihrem Anblick magisch angezogen wurde. Es war, als würde ihr Näherkommen nicht nur seine Atmung, sondern auch seinen Herzschlag durcheinanderbringen. Gierig schnappte er nach Luft, doch anstatt sich auszudehnen, zog sich seine Brust immer enger zusammen.

„—io!"

„Tobio!"

„Huh?", schreckte Tobio aus seinem finsteren, hinabziehenden Gedankenstrudel. Sein Puls raste so schnell, dass ihm schlecht war. Es war die sanfte Berührung an seiner Wange, die ihn langsam wieder zur Besinnung brachte.

„Atme ganz ruhig, Tobio... Ein... und wieder aus. Ein... und wieder aus. Ja, so ist es gut", lobte Tetsurou, während er dem Jungen liebevoll über die Wange strich. In seinem geschwächten Zustand hatte er nicht mitbekommen, wie bang dem Setter ums Herz herum gewesen war. Dabei war es doch nur natürlich, dass Tobio Angst hatte. Das hätte er wissen müssen. Er ärgerte sich über sich selbst. „Besser?"

„J-Ja", hauchte Tobio angestrengt.

„Hallo, Tobio."

Noch immer leicht neben der Spur, sah Kageyama zu dem Hauptkommissar auf, der freundlich auf ihn herablächelte. „H-Hallo."

„Ich habe heute Nakamura und Takahashi mitgebracht. Wenn dir das aber zu viel ist, dann—"

„N-Nein, nein, schon gut. S-Sie dürfen gerne bleiben", stammelte Tobio. Unter vielen Menschen hatte er sich bisher stets unwohl gefühlt, doch seit er mit Tetsurou zusammen war, seit er mit ihm zusammenlebte, war dieses unbehagliche Gefühl Stück für Stück gewichen. Natürlich würde er sich niemals vollkommen losgelöst in großen Menschenmengen bewegen können, aber solange Tetsurou an seiner Seite war, konnte er alles ertragen.

„Hallo, Tobio. Wie geht es deiner Hand?", erkundigte sich Takahashi freundlich. Sie hatte in den letzten Monaten unzählige Stunden mit der Suche nach Tobios Eltern verbracht. Dabei war sie tief in den Werdegang des Jungen eingestiegen, hatte all seine Lebensstationen durchleuchtet und ein Gefühl der Verbundenheit zu ihm entwickelt, vor welcher jeder Polizeipsychologe warnte. Man solle eine emotionale Distanz zu den Opfern wahren, bekam man ständig wie ein Mantra aufgesagt. Sie aber fand, dass sie ihre Arbeit nur dann richtig machen konnte, wenn sie das Opfer nicht als Opfer sah, sondern als den Menschen, der hinter dieser Anonymisierung stand. Und Tobio Kageyama war es Wert, dass man ihn als Menschen sah. Er hatte es verdient, dass man all die Schandtaten aufdeckte, die ihm angetan worden waren, und ihn dennoch wie einen normalen Menschen behandelte – oder überhaupt als Mensch behandelte.

Rivalität mit Folgen [Teil 2]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt