94 - Epilog Pt. II : Julia

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»Taehyung? Ich bin da!«, brüllte ich laut und versuchte meine kleine Enttäuschung, dass er nicht sofort hier war und mich überfiel, mit meiner Freude über die pittoreske Aussicht zu kompensieren.

Da die Fenster keine Kreuze besaßen, hatte man einen wunderschönen Panorama-Blick über den Hangang und Gangnam an dessen anderem Ufer. Seouls Häuser wirkten von hier oben wie winzige Legobauten und die Autos auf den breiten Brücken wie Ameisen. Der Seoul Forest sah aus wie ein einziger grüner Blätterteppich und schien ferner als die Wolken am Himmel. Unser Penthouse lag wirklich verdammt weit oben. Zum Glück war ich schwindelfrei.

Als plötzlich ziemlich laut die ersten melodischen Töne eines Songs an den Wänden widerhallten, zuckte ich überrascht zusammen und wirbelte herum. Als ich ihn dann endlich sah, schienen tausend kleine Feuerwerkskracher in mir zu explodieren. Dort über mir – auf der Empore der halboffenen, zweiten Etage ­– stand Taehyung mit dunkelbraunen Haaren und einem entwaffnenden Strahlen im Gesicht. Die Musik allerdings stammte aus einer im Wohnzimmer drapierten Box. Er hatte das hier also vorbereitet.

»We were both young when I first saw you
I close my eyes, and the flashback starts
I'm standing there
On a balcony in summer air«

Als Taehyung sich möglichst weit über das Glasgeländer lehnte und laut zu Love Story von Taylor Swift zu singen begann, bescherte mir das tiefe Timbre seiner Stimme sofort eine Gänsehaut. Wie sehr hatte ich es vermisst, sie so unmittelbar und direkt vor mir zu hören...

»And I said
Romeo, take me somewhere we can be alone
I'll be waiting, all there's left to do is run
You'll be the prince and I'll be the princess
It's a love story, baby, just say 'Yes'«

Ich musste ein wenig lachen, als Taehyung – noch immer singend – begann, theatralisch Stufe für Stufe zu mir hinabzusteigen. Die Aussicht, ihn gleich wieder berühren zu können, ließ mein Herz bis zum Hals schlagen. Ich versuchte die Aufregung hinunterzuschlucken, doch es wollte mir einfach nicht gelingen.

Als er endlich die letzte Stufe erreicht hatte, stürmte ich sofort auf ihn zu und ließ mich in die wohl innigste Umarmung ziehen, die mir jemals irgendjemand gegeben hatte. Es war wie in warmes Wasser einzutauchen, das dich von allen Seiten einlullte und schweben ließ. Unterwasser blendete man die gesamte restliche Umgebung und alle Geräusche aus – und genauso war es, wenn ich in Taehyungs Armen lag.

»Willkommen zuhause«, murmelte er in mein Ohr und vergrub sein Gesicht in meinem Schopf. Als er uns hin und her wiegte, begann ich mit meinen Fingern kleine Muster auf seinen Rücken zu malen.

»Du hast mir so gefehlt«, nuschelte ich und schloss zufrieden die Augen. Jetzt war ich wieder hier bei ihm. Jetzt war alles gut.

»Du mir auch. Ich habe jede Minute an dich gedacht«, flüsterte er zurück und brachte mich damit ein wenig zum Lachen.

»Du übertreibst.«

»Nein, ohne Scheiß. Jede Minute.«

Ich löste mich ein Stück von ihm, um ihn direkt anzusehen und eine Grimasse schneiden zu können. So konnte man prima das eigene Herzrasen überspielen. »Das ist kitschig, Romeo.«

»Lass mich doch kitschig sein«, brummte er gespielt eingeschnappt. »Ich habe drei Monate nachzuholen.«

Wie ernst er diese Worte meinte, erfuhr ich aber erst, als er schließlich seine Lippen auf meine presste und mich so fordernd und intensiv küsste, als wolle er wirklich ein Vierteljahr voller verpasster Küsse hier reinstecken. Meine Magengegend kribbelte und rumorte wie in einer Achterbahn-Schraube: Es war ein Moment, in dem ich nicht wusste, wo oben und unten war, und mich schwerelos fühlte.

perfecт ѕтrangerѕWhere stories live. Discover now