02 - Julia

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Kapitel 2
»Julia«

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Julia

Der kalte Januarwind riss die lästigen Babyhärchen aus meinem Zopf, den ich heute Morgen so mühevoll gebunden hatte, kaum hatte ich das Einstein-Café und damit den penetranten Geruch des Kaffees hinter mir gelassen. Mit zitternden Fingern schnürte ich meinen Schal noch fester um den Hals, bevor ich Richtung Bahnhof eilte. Die Absätze meiner Schuhe klackerten auf dem Asphalt und schon nach kurzer Zeit kristallisierte jeder meiner Atemzüge als kleine Wolke in der eisigen Luft. Zum Glück kostete es mich nur knappe fünf Minuten, in denen ich vorbei an den Betonriesen und dem großen Einkaufszentrum Alexa marschierte, bis das halbrunde Glasdach des Bahnhofgebäudes vor mir auftauchte. Als ich meinen Blick kurz auf die Straße senkte, fielen mir sofort die vielen Zigarettenstummel ins Auge, weshalb ich naserümpfend lieber gen Himmel schaute. Dort spiegelte sich das trübe Mittagslicht in der Kugel des Fernsehturms wider.

Die großen Menschenmassen, durch die ich mich quetschen musste, bestätigten mir nur noch mehr, dass es wirklich mal wieder Zeit für einen Besuch in Blankenfelde war. Berlin verkörperte den Stress, den ich mir neben meinem Studium und den Strapazen meines Nebenjobs nicht auch noch dauerhaft geben musste. Deshalb konnte ich mich wirklich glücklich schätzen, dass meine Familie in einem Vorort der Hauptstadt lebte. Theoretisch hätte ich dort auch, zumindest bis ich meinen Master in der Tasche hatte, weiterhin wohnen können. Aber nach dem Abitur hatte ich einen Tapetenwechsel und das Gefühl von Unabhängigkeit dringend gebraucht – außerdem war es ohnehin seit Grundschultagen mein Traum gewesen, mit Maya in eine WG zu ziehen. Wer wollte sich schon nicht mit seiner besten Freundin die vier Wände teilen?

Lange musste ich mir am Bahnsteig glücklicherweise nicht den Allerwertesten abfrieren, bis der RE7 mit einem ohrenbetäubenden Kreischen der Gleise vor mir zum Stehen kam. Ich huschte eilig in den Innenraum des erstbesten Wagons, um einen freien Sitz zu ergattern...mit Erfolg. Erleichtert ließ ich mich auf den Fensterplatz fallen, platzierte meine Handtasche sorgfältig auf meinem Schoß und kramte meine Kopfhörer zwischen meiner Arbeitsschürze und einem Schreibblock hervor. Das unschöne Gemisch von Stimmengewirr, Fußstampfen und Husten – hallo Wintergrippe – wich den melodischen Tönen von Magic Shop von BTS.

Als die rauchige Stimme meines Bias' RM in mein Ohr drang, schloss ich mit einem müden Lächeln die Augen. Es war erstaunlich, wie allein sein Gesang den tristen Alltag bunt färbte, vor allem für eine Person wie mich. Nicht einmal mein pubertierendes Ich war je einer Groupie-Phase zum Opfer gefallen, und das Land Südkorea hatte ich bis vor zweieinhalb Jahren mit Strohhut-tragenden Reisbauern verbunden. Woher also der spontane Sinneswandel? Nun, das ließ sich in vier Worten erklären: Maya und ein Musikvideo. Ehe ich es überhaupt realisiert hatte, war ich dem Charme von Park Jimin mit einer Augenbinde verfallen. BTS hatte eine lebensverändernde Anziehungskraft auf mich ausgeübt, die tatsächlich darin resultierte, dass ich inzwischen Instant-Ramen wie eine Irre verputzte und unter der Dusche laut Songtexte in einer ausgedachten Sprache trällerte, die dem Koreanischen hoffentlich zumindest ein wenig ähnelte.

Die Bahn setzte sich endlich in Bewegung und ich lehnte meinen Kopf gegen die kalte Fensterscheibe. Das graue Berlin zog an mir vorbei, doch man konnte nicht auf einzelne Gebäude achten, ohne eine Migräne davonzutragen. Alles verschwamm viel zu schnell, weshalb ich erneut die Augen schloss. Butterfly begann durch die Kopfhörer zu tönen, doch Jungkooks sanfte Stimme konnte meine Gedanken nicht davon abhalten, zu meiner Hausarbeit über Leseerziehung abzudriften. Es war kein Hexenwerk, sie zu schreiben, das wusste ich...dennoch begann es jedes Mal unangenehm in meiner Magengegend zu rumoren, wenn ich auch nur daran dachte. Da konnte ich mich auch nicht freuen, dass ich in dieser Phase keine Vorlesungen besuchen musste und mehr Zeit für meinen Nebenjob hatte. Es war Maya gewesen, die mich so seit Tagen zu trösten versuchte – erfolglos. Vielleicht würde mich ja der Frühjahrsputz, den sich meine Familie für heute Nachmittag vorgenommen hatte, von meinem Stress rund um die verhasste Hausarbeit ablenken.

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