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Nazar.

Unser Urlaub ist schon seit einer Woche vorbei. Diese eine Woche in der Türkei hat uns mehr als nur gut getan. Wir sind uns abermals näher gekommen und haben kaum gestritten. Wenn waren es nur kleine Sticheleien und eben die Sache mit meinem Herzen.

Seit einer Woche habe ich Hussein nicht gesehen, aber das ist auch besser so. Wir hingen echt aufeinander und irgendwann hat man auch genug von der Person. So war es auch bei uns. Denn am nächsten Tag hatten wir schon einen kleine Auseinandersetzung, obwohl es nicht einmal ein richtiger Grund war.

Aber wir haben am Abend telefoniert und es wieder geklärt. Wir haben geredet und ich bin der Meinung, dass dieses Reden uns immer weiter bringt, anstatt sich alles in einen hineinzufressen und nichts zu sagen.

Momentan kann mich auch nichts mehr davon abhalten, mich von ihm zu trennen. Egal, was es auch für ein Grund sein sollte. Ich bleibe an seiner Seite. Komme was wolle. Selbst in unseren schwierigsten Zeiten möchte ich ihn nicht verlieren. Ich will ihn einfach an meiner Seite behalten und nicht mehr gehen lassen.

Dieser Gedanke entstand auch teils, weil er so gut mit meinem Herzfehler klar kam. Mehr oder weniger gut. Hussein hat drei Stunden gebraucht. Drei Stunden Zeit für sich gebraucht, um seine Gedanken zu sortieren und dann wieder zu mir zurück zu kommen.

Ich kann es nicht oft genug sagen, aber dieser Mann lässt mein Herz schneller schlagen. Er hat mir zum ersten Mal in meinem Leben gezeigt, wie man eine Person wirklich liebt. Wie es ist, wenn eine Person dich liebt.

Und ich liebe ihn mit allem was ich habe.

„Enes, yavrummm", ruft mein Cousin Riza über den ganzen Spielplatz und lässt ein paar Mütter zu ihm gucken. Schon peinlich, wenn man bedenkt, dass 90 Prozent der Frauen hier Türken sind und ihn verstehen. „Jetzt komm mal her, du Gauner. Ich will dir doch nur was zeigen."

Eigentlich will er ein Video von ihm machen, damit er die Mädels beeindrucken kann, welche ihm auf Instagram folgen.

Riza ist nicht hässlich. Um ehrlich zu sein, ist er ziemlich attraktiv, dafür, dass er gerade mal 21 Jahre alt ist. Und trotzdem ist er Single. Schon seitdem er nichts mehr mit Cansu zu tun hat.

Riza nimmt Enes auf, welcher im Sandkasten etwas zusammen braut und dabei lacht. Dieses Bild, was sich mir anbietet, ist verdammt süß und ich kann einfach nicht wegsehen.

Nachdem Riza seine Videos und Bilder für Instagram hat, kommt er wieder zurück zu mir auf die Bank und lässt sich neben mich fallen.

Sofort reiche ich ihm die Packung Sonnenblumenkerne, aus welchem er eine handvoll nimmt.

„Erzähl, wie war dein Urlaub?", will er wissen und behält seine Augen auf meinem Neffen. Ich tue es ihm gleich und und muss lächeln, wenn ich zurück an die sieben Tage denke.

„Umwerfend. Fast schon unbeschreiblich", antworte ich ihm. „Mal abgesehen davon, dass es schon immer mein Traum war, dorthin zu fliegen."

„Und dann auch noch mit deinem ersten Freund", lacht mein Cousin leise auf. „Hat er sich gut angestellt? Habt ihr euch gestritten?"

Kopfschüttelnd sehe ich kurz zu ihm. „Nein kaum. Vielleicht ein zwei Mal, aber nichts großartiges", gebe ich zurück und schaue wieder zu Enes, welcher nun mit einem weiteren kleinen Jungen redet und spielt. „Aber das schlimmste von allen war, als ich ihm das wegen dem Loch erzählen musste."

Blitzartig dreht er seinen Kopf zu mir um und erstarrt. „Du hast es ihm gesagt? Wieso?"

„Es war nötig, Riza", erwidere ich seufzend und lasse meinen Blick auf die Packung fallen. „Ich habe eine Panikattacke bekommen und er war der einzige, der da war und es schon kannte. Aber er wusste den Grund dafür nicht. Ich musste es ihm sagen. Nicht nur, weil er enttäuscht aussah, sondern auch, weil bald meine Operation ansteht. Und wer weiß, ob ich es überleben werde."

Es ist still zwischen uns und jeder geht seinen eigenen Gedanken nach. Meine sind heute diesbezüglich meiner Operation sehr positiv. Nicht wie sonst, denke ich pessimistisch. Ich glaube daran, dass ich diese Operation überleben werde. Alle guten Dinge sind halt wirklich drei. Und ich hoffe inständig, dass es meine letzte Operation sein wird.

„Allah korusun", beginnt Riza und schüttelt mit dem Kopf. „Aber was machst du, wenn du es nicht überlebst?" Fragend schaut er zu mir und blickt mich verletzt an. „Wir sind alle schon darauf vorbereitet. Wir wissen es alle schon seit Jahren, aber Hussein erst seit einer Woche. Was meinst du, wie wird er reagieren?"

Schluckend sehe ich ihn an und zucke mit den Schultern. Sofort kippt meine Stimmung und die positiven Gedanken gehen flöten. Denn darüber wollte ich nie nachdenken, obwohl ich es musste.

„Ich weiß es nicht, um ehrlich zu sein", flüstere ich und schaue zu Enes.

Was mein Bruder seinem Sohn sagen würde, wenn ich nicht mehr da bin? Wenn seine Tante nicht mehr zu ihm kommt um mit ihm Zeit zu verbringen? Ihn zu verwöhnen?

„Ich will gar nicht erst daran denken, Riza", nuschle ich und wische mir eine Träne weg. Ich habe selbst nicht mal mitbekommen, wie mich dieses Thema zerbricht.

„Es tut mir Leid, dass ich dich das gefragt habe", entschuldigt er sich bei mir und nimmt meine Hand in seine, welche er leicht drückt. „Aber du wirst das schaffen, daran glauben wir alle. Wir sind fest davon überzeugt."

Laut schreiend rennt mein Neffe auf mich zu und wirft sich auf meine Beine. Seine großen, braunen Augen sehen mich warm an.

„Hala", kichert er und legt seinen Kopf auf meinen Beinen ab. „Hunga."

𝖥𝖫𝖮𝖶𝖤𝖱𝖲. | 𝙎𝘼𝙈𝙍𝘼. + BEARBEITUNG Where stories live. Discover now