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Nazar.

Ich kann es nicht bestreiten, aber nach drei Jahren habe ich endlich meine Ausbildung zur Automobilkauffrau abgeschlossen. Und das, obwohl ich im Jahr 2015 keine guten Chancen hatte.

Ich ging von Veranstaltung zur Veranstaltung, bei denen ich mich bei irgendwelchen Unternehmen vorstellte, aber immer wieder eine Absage von ihnen erhalten habe. In dieser Zeit hatte ich sogar meine Hoffnungen aufgeben. Selbst meine Eltern, die mir mit allem geholfen hatten, bis mein Onkel es mitbekam und mich bei ihm ausbildete.

Drei Jahre - nicht mehr nicht weniger - und ich bin mehr als glücklich. Ich bräuchte nicht mal mehr einen Nebenjob wie damals in der Shishabar. Diese Zeiten habe ich nun hinter mich gebracht und kann mehr als stolz darauf sein.

Zur Feier des Tages sind mein Onkel und ich in einen der vielen Restaurants essen. In Kreuzberg und um ehrlich zu sein, ist dieses Restaurant sogar eins der Besten, wenn man mich fragt. Aber da hat jeder einen anderen Geschmack.

„Und wie fühlt es sich an, Kizim?", fragt mich mein Onkel Ihsan und lächelt mir zu. In diesem Moment werden auch unsere Getränke gebracht, für ihn eine Cola Light und für mich eine Fanta.

„Sehr gut, vor allem nach meinem ersten richtigen Arbeitstag, Dayi", beantworte ich ihm ehrlich und nehme einen kleinen Schluck aus meinem kalten Glas.

„Das freut mich und deinen Eltern ebenso", sagt dieser erfreut und schaut sich in der Umgebung um. „Erinnerst du dich noch, als du mit deiner Familie in Kreuzberg gelebt hast? Man, waren das Zeiten."

Ich schüttle lachend den Kopf.

Zu dieser Zeit waren meine Brüder und ich nicht älter als sechs und mein Onkel so alt wie ich. Seine Schwester, also meine Mutter, war 18, als sie geheiratet hat. Die Verlobung und der Polterabend wurden in der Türkei gefeiert und die große Hochzeit hier in Berlin.

Zusammen mit meinem Vater zogen sie dann in eine kleine Wohnung nach Kreuzberg und lebten - bis meine Brüder fünf und sechs und ich drei wurde - hier. Dann ging es auch schon in den nächsten Stadtteil, in eine etwas größere Wohnung in Lichterfelde. Dort lebten wir bis vor fünf Jahren und in diesem Stadtteil hatten sowohl Çağdaş als auch Levent unsere Kindheit und Jugend verbracht.

Dayi, ich war drei", lache ich herzlich auf und stütze mich am Tisch mit meinen Armen ab. „Ich erinnere mich nur noch an Lichterfelde."

„Ach senin Lichterfelde-", fängt er an, aber stoppt sich selbst, als er merkt, dass er anfangen würde zu fluchen. Das bringt uns beide zum Schmunzeln. „Lichterfelde hatte seine Erinnerungen, aber Charlottenburg ist auch okay, oder nicht?"

„Okay? Şaka yapıyorsun, oder?", frage ich ihn, ob er Witze macht und sehe ihn dabei grinsend an. „Ja off, Dayi. Ich liebe Lichterfelde, aber unsere neue Wohnung ist einfach so viel schöner und wir fühlen uns alle zum ersten Mal wohl."

Ama türk yok", sage er schmollend. Es kommt mir schon fast vor, als würde es ihn stören, dass unsere Nachbarn mal keine Türken sind.

Dayi", mahne ich ihn lachend, verstumme aber, als ein Kellner mit unserem Essen an den Tisch kommt. Ich sehe dem Kellner dabei zu, wie er die zwei Teller auf seinen Händen balanciert und diese dann schließlich auf unseren Tisch legt. „Hör auf so zu sein. Du lebst fast immer noch im osmanischen Reich, obwohl du dich eingedeutscht hast."

„Das Wort ergibt keinen Sinn, Nazar", lacht er kopfschüttelnd und beginnt zu Essen, nachdem er Bismillah gesagt hat.

Ich würde es ihm ja gleich tun. Eine Zeitlang habe ich all die Worte ebenfalls gesagt, aber mit der Zeit habe ich mehr an die Wissenschaft als an den Glaube gedacht. Mein Lehrer sagte einst mal, dass man nicht an zwei Dinge gleichzeitig glauben kann. Entweder ist es die Religion oder die Wissenschaft.

Aber nein, er selbst hatte mich nicht zu einer nicht Gläubigen gemacht, ich war es schon davor.

Während wir essen, sprechen wir über viele verschiedene Themen. Über meine Eltern, meine Brüder und Çağdaş Abi's Sohn, die Arbeit und meinen Urlaub, welchen ich mir in zwei Monaten genommen habe. Ich würde für zehn Tage in die Türkei fliegen und das ganz alleine.

„Du weißt, dass du aufpassen musst, wenn du dort bist oder?", sagt mein Onkel ziemlich fürsorglich, als wir nachdem Essen zurück zu seinem Wagen laufen, um mich bei meinem Wagen rauszulassen.

„Ja biliyorum, Dayi", stöhne ich genervt auf und sage ihm, dass ich es weiß. Aber mein Onkel ist eben so. Er hat immer ein Auge auf mich, denn ich bin das einzige Mädchen aus der Familie meiner Mutter und meines Onkels. Er selbst hat zwar eine Frau, aber dafür drei Söhne. Andere Geschwister haben die beiden keine, deshalb verstehen sie sich auch so gut.

„Ich hab nur Angst um dich, okay? Du fliegst zum ersten Mal alleine dorthin und machst alleine Urlaub. Wenn dir dort etwas passiert, dann bricht mein Herz, Nazar", sagt er besorgt und steigt in seinen Wagen ein, nachdem er diesen aufgeschlossen hat.

„Es wird nichts passieren, keine Sorge", lächle ich ihm zu und setze mich auf der anderen Seite des Autos auf den Beifahrersitz hin. „Vielleicht möchte Ilyas ja mit, mal gucken."

Ilyas ist einer meiner engsten Freunde und der Sohn einer Bekannten. Wir kennen die Familie, seit wir in Lichterfelde gelebt haben und trotz unseres Umzuges hat sich der Kontakt zu ihnen nicht geändert.

„Ja frag ihn mal", sagt mein Onkel bestimmt, parkt dabei aus der Lücke und fädelt sich in den Berliner Verkehr ein. „Dann würde es mir auch besser gehen und ich hätte jemanden, der auf dich aufpassen würde."

„Ach Dayi, ach."

𝖥𝖫𝖮𝖶𝖤𝖱𝖲. | 𝙎𝘼𝙈𝙍𝘼. + BEARBEITUNG Where stories live. Discover now