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Nazar.

Den Sonntag verbringe ich bei meinem Bruder, seiner Frau Melike und dessen Sohn Enes. Dieser ist gerade mal drei Jahre alt und jetzt schon ein ziemlicher Wirbelwind.

Natürlich will jedes Kleinkind Aufmerksamkeit haben, aber Enes möchte von jedem 24/7 die Beachtung bekommen. Schon mit drei Jahren und langsam macht sich meine Yenge Gedanken.

„Enes, dur", versuche ich ihn aufzuhalten und laufe dem kleinen Frechdacks hinterher. Doch der kleine Zwerg rennt lachend von mir weg und schreit dabei herum. „Enes, dur dedim!"

Sofort bleibt er stehen und dreht sich grinsend zu mir herum, dabei legt er seine Hände vor seinem Gesicht und versucht sich anscheinend vor mir zu verstecken.

„Was mache ich nur mit dir, Enes, hm?", sage ich grinsend und nehme ihn auf meinen Arm. „Siskom, hast du hunger?"

„Nein, Nazar", höre ich meinen ältesten Bruder Çağdaş Abi rufen und lache leise auf. Mein Neffe erwidert das Lachen und sieht mich frech an.

„Shhh", flüsterte ich und laufe mit ihm in das Wohnzimmer zurück. „Niye? Wir haben aber Hunger, Abim."

„Du vielleicht, aber Enes wird rollen, wenn wir ihn weiterhin essen geben", gibt er zurück und kommt auf mich zu, um seinen Sohn von mir zu nehmen. Schmollend sehe ich ihn an. „Bakma öyle, Nazar."

Trotzdem sehe ich meinen Bruder so an, einfach aus Prinzip, weil er es nicht will. Enes schaut sich den Blick bei mir ab und blickt seinen Vater ebenfalls so an.

„Er kommt weder nach seiner Mutter noch nach mir, sondern nach seiner Tante", seufzt er auf und reicht mir meinen Neffen wieder. „Al ve git."

„Rede nicht so über meinen Neffen, als sei er ein Spielzeug", lache ich und kneife Enes in die Wange.

Hala", spricht er dann und klatscht mir direkt seine Hand gegen meine Wange.

„Ich wusste es", seufzt mein Bruder erneut auf und beginnt dann mit seinem Sohn zu schimpfen. Aber es ist nichts Neues. Der kleine Enes schlägt gerne mal Leute und bekommt dann etwas von seinem Vater zu hören. „Noch einmal und du kannst ins Bett gehen und schlafen, okay?"

„Okay Baba", grinst dieser auf und lacht dann, ehe er wieder runter gelassen wird und der kleine Frechdachs zu seiner Mutter in die Küche rennt.

„Ich glaube, Enes wird später ein Boxer", lache ich auf und lasse mich auf die Couch fallen. „Immer wieder das selbe mit ihm."

„Nichts Boxer, er wird Fußballer wie sein Vater damals", grinst mein Bruder und lässt sich neben mich nieder.

Mein Bruder und ich reden sehr lange und viel. Über unsere Arbeit, die Familie und auch über unsere Kindheit. Aber er erzählt mir auch, dass seine kleine Familie und er dieses Jahr in die Türkei fahren werden. Mit dem Auto.

Wir sind schon oft mit dem Auto dorthin gefahren, weshalb es für Çağdaş Abi kein Problem sein wird. Aber mit so einem kleinen Jungen, der mehr Lauf braucht als ein Hund, wird es für ihn und Melike ziemlich anstrengend werden.

Irgendwann gegen 20 Uhr, nachdem ich mich entschieden habe, hier zu übernachten und morgens dann zur Arbeit zu fahren, klingelt mein Handy.

Enes schläft schon und ich sitze mit meinem Bruder und seiner Frau im Wohnzimmer und wir sehen uns eine der vielen türkischen Serien an.

Ein Blick auf mein Handy zeigt mir, dass der libanesische Rapper mich gerade anruft.

Komisch.

„Ich komme sofort", entschuldige ich mich bei ihnen, ehe ich mit dem Handy in meiner Hand aufstehe und in die Küche laufe. Hussein hat bereits den Anruf beendet, weshalb ich ihn wieder zurück rufe und darauf warte, dass er annimmt. Das macht er auch nach drei Mal klingeln. „Hey, was gibt es?"

Er seufzt kurz auf. „Wollte wissen, ob du Zeit hast", kommt er gleich auf den Punkt und lässt mich schmunzeln. Doch im nächsten Moment verblasst es wieder.

„Nein, tut mir Leid", antworte ich ihm und setze mich auf dem Stuhl. „Ich bin bei meinem Bruder und komm hier nicht raus."

„Okay, kein Problem", atmet er dann tief aus. Seine Stimme klingt bedrückt und aus dem Hintergrund vernehme ich, wie etwas gegen die Wand geworfen wird.

„Ist alles okay?", frage ich ihn besorgt und mache mir langsam Sorgen. „Wer ist bei dir?"

„Ich bin bei Capi", erwidert er sofort und schon wieder höre ich etwas gegen die Wand prallen. „Er hat gerade einen Aggressionsmoment und ich hab echt kein Plan, wie ich ihn beruhigen soll."

Einen Aggressionsmoment? Was soll das bitte heißen? Okay gut, es ist nicht auszuschließen, dass es dem Ukrainer nicht besonders gut geht, dennoch sollte man seine Beherrschung nicht verlieren.

„Dieser kleine Bastard", höre ich Capi brüllen und zucke zusammen.

„Ich leg auf, Nazar", spricht dann Hussein und worauf ich nur nicke. „Ich melde mich."

Ich brauche einen Moment, um zu realisieren, dass es auch bei den beiden Rappern nicht gut laufen kann. Das auch berühmte Menschen ihre Macken haben und mal durchdrehen können. Oder so wie Hussein, versuchen ruhig zu bleiben.

Wenige Minuten später kehre ich wieder zurück in das Wohnzimmer und setze mich neben meinem Bruder auf die Couch hin, wo beide immer noch wie gebannt die Serie verfolgen.

Keiner der beiden fragt mich, wer mich angerufen hat und was los ist. Nein, sie schauen sich einfach nur die Serie an und liegen eingekuschelt in einer Decke und genießen ihre Zweisamkeit.

Dafür bin ich ihnen dankbar. Dass sie nicht so neugierig sind und mich nach jeder noch so winzigen Kleinigkeit ausfragen und stattdessen auf sich selbst fokussiert sind.

𝖥𝖫𝖮𝖶𝖤𝖱𝖲. | 𝙎𝘼𝙈𝙍𝘼. + BEARBEITUNG Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt