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Nazar.

Ich renne. Ich renne, so schnell ich kann und blicke nicht nach Hinten. Denn ich weiß, dass wenn ich es tue, ich nicht weiter komme.

Sie sind hinter mir her und ich weiß nicht wieso. Immer schneller werden meine Beine und ich biege - so oft ich kann - ab.

Welche Stadt es ist, weiß ich nicht. Es ist dunkel, die Gebäude heruntergekommen und die Fenster mit Brettern zugenagelt. Fast keine Menschenseele ist zu sehen. Nur ein paar Obdachlose, die in ihren Ecken liegen und mir nach schauen.

Kurz bleibe ich in einer dunklen Gasse stehen und hechle nach Luft. Mein Herz springt mir förmlich aus der Brust. Es klopft ununterbrochen und ich habe Angst, dass es sich verschlimmert. Dass ich gleich eine Panikattacke erleide.

Dann höre ich Schritte. Laute, schwere Schritte, die immer näher zu kommen scheinen.

Ich muss hier weg.

Und dann fange ich wieder an zu rennen. Sehe nicht nach hinten. Laufe an den verschiedensten Läden vorbei, welche schon geschlossen haben.

Der Wind pfeift in meinen Ohren und lässt meine Haare durcheinander werden.

Nazar", höre ich eine Stimme nach mir rufen, doch weiß nicht woher sie kommt. Es klang so, als würde sie von über all kommen und direkt an meinem Ohr, obwohl ich mir sicher bin, dass niemand hinter oder neben mir steht.

Erschrocken bleibe ich stehen, als ich eine dunkle Gestalt am Ende der Gasse entdecke und laufe ein paar Schritte nach hinten.

Scheisse.

Langsam und leise versuche ich zu flüchten. In eine andere Seitenstraße zu verschwinden, als mich jemand am Arm packt und ich laut aufschreie.

Sie haben mich.

Nazar."

Wieder eine dunkle Gestalt. Sie hält mir den Mund zu. Die Gestalt ist mir so nah, doch ich erkenne nichts. Seine Kapuze ist tief in sein Gesicht gezogen, doch ich erkenne sein teuflisches Grinsen.

Ich schreie. Ich schreie, so laut ich kann. Immer wieder versuche ich mich von dieser Gestalt loszureißen, doch sie hat mich fest im Griff. Es passiert einfach nichts. Und langsam, aber sicher bekomme ich Panik.

Die Panik, vor welcher ich Angst habe. Mein Herz und meine Atemwege schnüren sich zusammen.

Gerade noch bin ich vor diesen Menschen geflohen. Und jetzt hat einer von ihnen mich in seinen Fängen. Er lässt mich nicht los. Er lacht nur laut, während ich mir die Seele aus dem Leib schreie.

Nazar."

Noch immer schreie ich und versuche mich von ihm loszureißen. Ich versuche nach Luft zu ringen und meine Atmung zu kontrollieren. Doch nichts dergleichen passiert. Nichts hilft mir, diese Panik aus meinem Körper und meinem Verstand zu treiben.

Nazar!"

Schlagartig öffne ich meine Augen und sehe in die von Hussein. Er steht neben mir und sieht mich besorgt an.

Dann spüre ich, wie mir der Schweiß von der Stirn tropft und ich am Glühen bin.

Es war alles nur ein Traum, rede ich mir ein und schaue mit großen, ängstlichen Augen zu ihm. Alles nur ein Traum.

Alles okay. Du hast nur schlecht geträumt", versucht er mich zu beruhigen, während ich immer noch schlecht Atmen kann.

Noch nie hatte ich solch einen schlechten Traum. Noch nie wurde ich in einen meiner Träume verfolgt. Noch nie hat sich ein Traum so echt angefühlt. Noch nie hatte ich im Traum und auch in Wirklichkeit eine Panikattacke.

Schluckend sehe ich ihn an und wische mir mit meinem Arm den Schweiß von meiner Stirn.

„Willst du bei mir schlafen?", fragt er mich dann vorsichtig, worauf ich nicke. Ich nicke auf seine Frage, weil ich mich sicherer in seiner Nähe fühle.

Auch wenn wir uns noch gestritten haben, wer wo schläft, hat er sich dann geschlagen gegeben und mich im Wohnzimmer schlafen lassen. Obwohl er es nicht einmal wollte.

Ich will gerade aufstehen, als er seine Hände unter meine Knie und meinen Rücken legt und mich dann hoch hebt. Sofort schlinge ich meine Arme um seinen Nacken und schmiege mich an ihn.

Wieso habe ich nicht von Anfang an bei ihm im Bett geschlafen? Ich weiß doch, wie gut mir seine Nähe tut. Wie gut er mir tut.

Im Schlafzimmer legt er mich sachte auf der unbenutzten Seite ab und deckt mich dann zu. Anschließend läuft er auf die andere Seite des Bettes und legt sich dorthin.

Wir halten einen großen Abstand zueinander. Mein Rücken ist zu ihm kehrt und ich starre geradewegs zum Fenster hinaus. Die Jalousinen sind nicht nach unten gezogen, sodass das Mondlicht in das Zimmer leuchtet.

„Meine Mama sagt stets, dass man seinem Partner im Bett nicht den Rücken kehren soll", höre ich seine raue Stimme und kneife mir die Augen zu. „Auch wenn wir gerade in einer komplizierten Lage stecken, kehr mir bitte nicht den Rücken zu."

Ich schlucke leicht auf und drehe mich langsam zu ihm um. Meine Augen sind noch immer geschlossen und doch spüre ich seine Nähe, obwohl ich ihn nicht sehe. Er liegt direkt neben mir, dass weiß ich. Dass fühle ich.

„Danke", haucht er.

„Ich hab Angst zu schlafen", gestehe ich ihm kleinlaut und öffne meine Augen, um seine Reaktion zu sehen. Hussein schaut mich einfach nur an. „Ich hab Angst, wieder davon zu träumen."

„Willst du es mir erzählen?", fragt er mich dann und rutscht dabei näher zu mir.

Kopfschüttelnd lasse ich es zu, dass er sich nähert. Dieses Mal habe ich nichts dagegen. Ich will, dass er mir nahe ist.

„Nein", antworte ich leise und sehe ihn an. „Meine Mutter meinte immer, dass man seine Träume nicht weiter erzählen darf. Egal, ob gute oder schlechte."

Er nickt etwas und lässt seine Augen noch immer auf mir liegen. „Schlaf ruhig. Ich bin hier, wenn was sein sollte."

Doch ich kann nicht. Dieser Traum hat mir meinen Schlaf geraubt und jetzt liege ich schon fast hellwach neben ihm. Meiner ersten Liebe.

„Wie hast du mitbekommen, dass ich am Träumen war?"

„Du hast geschrien", erwidert er sofort und seufzt auf. „Ich dachte zu erst, jemand ist in der Wohnung und bin sofort aus dem Bett gesprungen. Dann hab ich dich aber einfach da liegen sehen und versucht dich zu wecken. Aber du hast kaum bemerkt, dass ich da war."

„Wie lange?", will ich wissen und komme ihm nun näher.

„Etwa fünf Minuten", haucht er und lässt seinen Blick kurz auf meine Lippen fallen.

Ich will ihn nicht länger warten lassen. Ich will mich nicht länger warten lassen. Mein Körper, mein Herz und mein Verstand verzerren sich nach ihm. Ich vermisse ihn. Ich vermisse ihn und seine Berührungen. Seine Liebe zu mir, die ich immer gefühlt habe. Und ich will all das nicht verlieren.

Ich will Hussein nicht verlieren.

„Ich danke dir, Hussein", nuschle ich und lege mich noch näher an ihn, sodass mein Kopf an seinem Oberkörper ist. „Ich danke dir."

Plötzlich spüre ich seinen Arm um meinen Körper. Er hat sich überwunden, genau so wie ich es geschafft habe. Hussein zieht mich näher an sich und drückt mir einen Kuss auf meine Haare.

„Versuch zu schlafen, Nazar", flüstert er leise und atmet gleichmäßig ein und aus.

Und so schlafe ich ein. In seinen schützenden Armen. In den Armen meiner ersten Liebe.

𝖥𝖫𝖮𝖶𝖤𝖱𝖲. | 𝙎𝘼𝙈𝙍𝘼. + BEARBEITUNG Donde viven las historias. Descúbrelo ahora