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Nazar.

Seit fast drei Stunden ist er nicht wieder gekommen. Und in diesen drei Stunden habe ich geweint, ihn angerufen, etwas gegessen und mich schliesslich wieder weinend ins Bett gelegt.

Was ist, wenn er einfach abgereist ist? Wenn er mir nicht mehr vertraut? Wenn er all das nicht mit machen kann?

Verlässt er mich jetzt? Wird er gehen und nicht mehr an meiner Seite stehen?

Abermals greife ich nach meinem Handy und versuche ihn zu erreichen, doch seine Mailbox geht nur dran. Er hat sein Handy ausgeschaltet.

„Hussein, egal wo du bist. Bitte komm zurück", schluchze ich nach dem Singalton und lege dann wieder auf. Das ist bestimmt schon mein hundertster Anruf und seine Mailbox ist sicherlich schon randvoll mit meinen Nachrichten.

Auch auf Whats App sieht es nicht anders aus. Aber er war nicht online. Heute morgen war es das letzte Mal, irgendwann um acht Uhr morgens. Zu dieser Zeit habe ich noch geschlafen. Um neun Uhr war ich wach.

Ich setze mich auf, als ich höre, wie die Tür sich öffnet und schaue mit verheulten Augen dorthin. Der Libanese tritt mit zögerlichen Schritten in das Zimmer und schließt die Tür, gegen welche er sich dann lehnt.

Sofort stehe ich vom Bett auf und laufe auf ihn zu. „Hussein", hauche ich und halte einen großen Abstand zu ihm.

Er schaut mich an, sehr lang. Bis er sich überwindet und mit schnellen und großen Schritten auf mich zu kommt und mich in eine innige Umarmung zieht, nach welcher ich mich die ganze Zeit gesehnt habe.

Ich beginne wieder zu weinen und drücke mich fester an ihn. Dabei lege ich meine Arme um seinen Körper und merke selbst, wie ich am Zittern bin.

Sanft streicht er mit seiner Hand über meinen Rücken. Seine Nähe tut mir gut. Hat sie immer und wird sie auch immer.

Wie kann es sein, dass nur ein Mensch mich beruhigen kann? Dass er mein Ruhepol ist, aber auch gleichzeitig mein Sturm in der Dunkelheit?

„Es tut mir Leid", nuschelt er und drückt mich näher an sich. „Ich hab's immer wieder mitbekommen. Dachte, dass ich der Auslöser für diese Panikattacken bin. Aber nicht das es so etwas ist."

Ich drücke mich etwas von ihm weg und schaue zu ihm hoch. Seine Augen sind leicht gerötet. Schon fast verletzlich sieht er mich an.

Kopfschüttelnd lege ich meine Hände an seine Wangen und versuche meine Tränen zurück zu halten. „Nein", hauche ich und schüttle abermals meinen Kopf. „Gestern war es, weil ich meine Tabletten seit einem Monat nicht genommen habe."

Hussein zieht seine Augenbrauen zusammen. „Bist du dumm? Wieso nimmst du sie nicht? Willst du uns umbringen?"

Uns. Er redet von uns. Nicht von mir oder ihm. Von uns.

„Es ist ziemlich lange nicht mehr vorgekommen, ask", kläre ich ihn auf. „Seit der Shishabar und eine Woche danach habe ich aufgehört die Tabletten zu nehmen."

„Wieso? Planst du eine Selbstmord Fahrt? Willst du dich umbringen, bevor du deine Operation hast?", zischt er mich an und lässt mich los. „Ich hoffe, du weißt, dass Selbstmord eine Sünde ist."

„Hussein-"

„Nein! Du bringst dich nicht eigenhändig um, Nazar!", wird er lauter. Er versteht das alles so falsch. „Du würdest so viele Menschen in Trauer da lassen. Deine Familie, Rüya, Louisa. Sogar diesen Bastard von Ilyas!" Von Sekunde zur Sekunde wird er wütender. Aber ich weiß, dass diese Wut kommt, weil er besorgt ist. „Du würdest mich hier alleine lassen. Ich würde zurück in mein Loch fallen. Bitte tu dir einfach nichts an."

Ich nehme seine Hände in meine und küsse diese. „Hatte ich nicht vor", sage ich leise und schaue zu ihm hoch. „Ich bin einfach nur vergesslich gewesen. Ich dachte auch, dass ich es nicht mehr benötige."

Erleichtert seufzt er laut auf und hebt mich dann aus dem Nichts hoch, sodass ich meine Beine und Arme um seinen Körper schlinge. Hussein trägt mich zum Bett und setzt sich dort ab. Zusammen liegen wir nun nebeneinander und schauen uns an. Wir haben uns noch viel zu sagen. Er hat bestimmt noch tausend Fragen, die auf seiner Zunge liegen. Und ich würde sie ihm alle beantworten.

„Kann es Komplikationen bei der Operation geben?", will er wissen. Seine Stimme ist so leise und bricht immer wieder mal ab. „Kann etwas schief gehen?"

Zögerlich nicke ich und kuschle mich an ihn. „Es kann alles schief gehen. Mein Herz kann von jetzt auf gleich aufhören, während der Operation. Die Ärzte können etwas falsch machen. Die Narkose kann etwas anrichten", flüstere ich und sage ihm alles, was man mir sonst immer sagt. „Aber es kann auch alles gut laufen. Bisher ist immer alles gut gelaufen und ich vertraue meinem Arzt. Er hat mich mit 19 operiert und mich auch seit meinem 14 Lebensjahr begleitet."

Er nickt leicht und legt seine Arme um mich. „Wie sind diese Panikattacken? Was passiert da genau?"

Schluckend sehe ich ihn an. Wie soll ich ihm das jetzt erklären? Die Schmerzen zu erklären, würde einfacher sein, als das, was sich vor meinen Augen abspielt.

„Also", fange ich an und überlege, wie ich es nun sagen soll. „Die Schmerzen in meiner Brust sind einfacher zu erklären, als das, was um mich herum passiert." Ich nehme tief Luft und streiche mit meinen Fingern über seinen Arm. „In der Gegend meines Herzens zieht sich alles zusammen. Ich habe so ein komisches, drückendes Gefühl in der Brust. Vergesse manchmal zu atmen und mein Herz rast schnell oder ich spüre es gar nicht mehr. Es fühlt sich an, als würde ich ein Herzinfarkt bekommen, obwohl ich nicht weiß, wie sich sowas anfühlt."

„Deswegen klopfst du dir immer auf deine Brust", nuschelt er, nachdem ich ihm meine Schmerzen erklärt habe.

„Das mache ich, damit ich den Rhytmus meines Herzschlages folgen kann. Aber so bekommen es alle in meiner Umgebung mit, dass etwas nicht stimmt", bestätige ich seine Aussage. „Und das Massieren an der Stelle tut mir auch gut."

Er erwidert nichts, weshalb ich überlege, weiter zu erzählen. Aber wie soll ich es ihm erklären?

„Und das andere..", sage ich nachdenklich. „Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Von der einen auf die anderen Sekunde verändert sich meine Umgebung, meine Sicht und auch die Handlungen der Menschen. Ich male mir im Kopf Szenarien aus, die dann auch wirklich passieren. Wenn ich mir gedanklich sage, dass du dir eine Kippe anzündest, dann tust du es in der nächsten Sekunde auch. Die Stimmen klingen verzerrt, weil ich mir sogar die Worte zusammen reime, die gesagt werden sollen. Alles wirkt wie in einem Traum, robotorhaft. Unwirklich. Nicht real. Aber es passiert trotzdem. Und deshalb ist es wichtig, dass man nicht mit mir spricht, nur die wichtigsten Dinge sagt und macht. Mich am besten alleine lässt, bis alles ein Ende gefunden hat."

„Also habe ich eigentlich alles richtig gemacht?", fragt er mich grinsend und streicht mir mit seinen Fingern über meine Wange. Kurz schließe ich meine Augen bei der sanften Berührung und nicke.

„Ja", hauche ich und sehe ihn wieder an. „Du hast an meine Tabletten gedacht, hast die Fenster geöffnet für frische Luft. Hast mir trinken gebracht und mich alleine gelassen. Nur was mich erstaunt ist, dass bisher niemand auf die Idee mit dem BH kam. Ich hätte nicht gedacht, dass es was bringt, aber ich konnte tatsächlich besser atmen."

Eine Weile lang schweigen wir und genießen die Nähe des anderen.

„Kannst du mir etwas versprechen?", bricht er dann die Stille zwischen uns und lässt mich zu ihm sehen. Das nimmt er als Aufforderung um weiter zu reden. „Bitte nimm wieder deine Tabletten. Okay?"

𝖥𝖫𝖮𝖶𝖤𝖱𝖲. | 𝙎𝘼𝙈𝙍𝘼. + BEARBEITUNG Where stories live. Discover now