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Nazar.

Die Antworten von Hussein gehen mir seit drei Tagen nicht mehr aus dem Kopf. Immer wieder muss ich daran zurück denken.

Er meint es schließlich ja gut, oder nicht? Er wollte, dass ich ihn nicht hasse. Er wollte, dass ich nun sein neues Ich kennenlerne. Er hat gesehen, was die letzten fünf Jahre aus mir geworden ist. Und andersherum habe ich es ebenfalls gesehen.

Hussein ist zu einem Mann geworden. Zu einem richtigen Mann, der so herzlich geworden ist. Obwohl wir uns am Anfang nicht leiden konnten. Obwohl wir uns immer wieder gestritten haben. Obwohl er mich oft verletzt hat. Er ist erwachsener geworden. Reifer.

Sollte ich ihn also nicht die Chance geben, die er verdient hat? Die er nutzen kann, um alles besser zu machen?

Seufzend komme ich nach meiner Mittagspause zurück zum Betrieb und setze mich an meinen Tisch. Zeki und Guiseppe schauen mich schon an. Doch sie sagen nichts. Irgendetwas haben die beiden.

„Was ist?", frage ich sie und sehe sie fragend an.

„Jemand hat angerufen und wollte dich sprechen", antwortet Guiseppe dann und zuckt leicht mit den Schultern. „Aber du warst in deiner Mittagspause und da wollte er dich nicht stören."

„Vielleicht solltest du zurück rufen", fügt Zeki noch hinzu, ehe er sich an seine Arbeit widmet. Guiseppe gibt mir einen Zettel mit einer Nummer drauf und lächelt mich leicht an.

„Viel Glück."

Ich sehe mir die Nummer an und ziehe die Augenbrauen zusammen. Es ist eine mir unbekannte Nummer. Nicht, dass ich jede Nummer auswendig kenne. Aber die wichtigsten eben schon.

„Hat er einen Namen gesagt?", will ich wissen und wähle die Nummer am Telefon, welcher auf meinem Schreibtisch steht.

„Nein. Du sollst nur zurück rufen", antwortet Zeki, ohne von seinen Unterlage hochzuschauen. „Klang wichtig."

Nickend wähle ich die Nummer. Ein paar Mal klingelt es, bis jemand den Anruf abnimmt.

„Hallo?", ertönt die raue Stimme und lässt mich erstarren. Mein ganzer Körper fällt in eine Starre und ein kalter Schauer läuft über meinen Rücken.

Eigentlich sollte ich keine Probleme damit haben, seine Stimme zu hören, doch ich tue es trotzdem noch. Jedes Mal reagiert mein Körper so, wofür ich ihn verfluche. Ihn und meinen Körper.

„Wer ist da?", will er nun wissen. Ich schlucke leicht und schiele zu meinen zwei Arbeitskollegen. Ob sie wussten, dass es er ist? „Nazar?"

Ich räuspere mich und versuche meine Stimme wieder zu finden. Doch sie ist wie verschwunden. Als würde ich keine besitzen.

„Du bist es, oder?", stellt er dann fest und lässt mich mit meinem Bein nervös auf und ab wippen. Er kennt mich einfach zu gut. Viel zu gut. „Okay, du musst nicht reden, aber ich wollte mich bei dir bedanken, weil du mich letztens nach Hause gefahren hast."

Immer noch antworte ich ihm nicht und schließe meine Augen. Eigentlich sind solche Gespräche nicht zulässig. Es ist ein privates Gespräch, aber im Moment ist es mir egal. Ich will wissen, was er zu sagen hat.

„Du hast mich gefahren, obwohl du es nicht mal machen musstes", spricht er weiter und atmet laut aus. „Das ist nämlich nicht mehr deine Aufgabe."

Ich schlucke leicht und fahre mir mit der freien Hand durch meine Haare. Wieso macht er es mir so schwer? Wieso meldet er sich nach einem Monat wieder bei mir und stellt meine Welt auf den Kopf?

Sollte er nicht schon lange mit mir abgeschlossen haben? Sollte er nicht schon lange jemand anderen gefunden haben? Jemand anderen lieben? Jemand anderen für eine Nacht ausnutzen?

„Bitte sag was", flüstert Hussein nun und ich merke, wie ich selbst mit mir kämpfe.

Antworten oder nicht antworten? Schließlich gibt er sich so viel Mühe. Er kam schon vor einem Monat hier her, hat versucht nach einem Gespräch zu suchen, doch ich habe nur abgeblockt. Ich habe immer abgeblockt und ihn nicht ausreden lassen.

Aber zu dieser Zeit war ich mir sicher, dass ich ihn nie wieder sehen will. Dass ich mit ihm abgeschlossen habe. Dass ich ihn nicht mehr in meinem Leben haben möchte.

Doch nachdem Telefonat mit Noah hat sich meine komplette Entscheidung geändert. Ich wollte ihn. Ich will ihn immer noch. Aber ich brauche noch etwas Zeit.

„Hussein", hauche ich leise und hoffe, dass die beiden Männer seinen Namen nicht mitbekommen haben. Aber sie wissen sicher schon, wer angerufen hat. „Bitte dräng mich nicht."

„Was meinst du damit?", fragt er mich nun nervös und ich glaube, dass er Angst hat.

„Ich brauche Zeit", antworte ich ihm und beiße mir leicht auf meine Lippe, um mir ein kleines Lächeln zu verkneifen. „Ich brauche Zeit, um wieder zu dir zurück zu kommen."

𝖥𝖫𝖮𝖶𝖤𝖱𝖲. | 𝙎𝘼𝙈𝙍𝘼. + BEARBEITUNG Onde histórias criam vida. Descubra agora