Kapitel 52

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Ich hatte es nicht vermisst, so früh aufzustehen. Eindeutig nicht. Wieso mussten ausgerechnet meine Kurse jedes Mal am Montag 7:30 Uhr starten? Wer machte diesen gottverdammten Plan?

Schlaftrunken, mit einem offenen Auge und den Kopf auf meinem Ellenbogen gestützt, saß ich nun in der Vorlesung von Professor Chang und wartete darauf, dass besagter Professor den Raum betrat. Ich war mir zwar nicht wirklich sicher, ob mein Gehirn die nächsten neunzig Minuten verarbeiten konnte, doch ich gab mir die größte Mühe, wenigstens das eine Auge offen zu halten. Mein Gehirn fühlte sich an wie eine leere graue Masse, die verloren in seinem Gehäuse herumschwamm. Ich sagte doch. Eindeutig zu früh.

Plötzlich wurde die Tür mit solchem Schwung aufgestoßen, dass sie krachend gegen die Wand prallte. Mein Kopf wäre fast auf die Tischplatte geknallt, wenn ich nicht so schnell reagiert hätte.

Mit weit aufgerissenen Augen und einem Gehirn, das vom Schlaf noch zu vernebelt war, um zu realisieren, was gerade passierte, starrte ich irritiert den Professor an. Dieser lachte bis über beide Ohren, während er uns zurief: ,,So, jetzt müssten alle wach sein. So sollte ich jeden Montagmorgen starten, finden Sie nicht?'' Ohne auf unsere Reaktionen zu warten, machte er sich auf den Weg zu seinem Pult.

Ich nutzte diesen Moment der Stille, um ihn näher zu betrachten. Er musste um die vierzig herum sein, vielleicht auch älter. Mit seinem dunkelgrauen Anzug und dem blauen Hemd, das er darunter trug, sah er auf den ersten Blick ziemlich adrett aus. Zu seinem doch eleganten Erscheinungsbild, das schon fast spießig wirkte, passte jedoch nicht sein lockeres Auftreten. Auch seine Haare standen wild zu allen Seiten ab. Seine typisch asiatischen Gesichtszüge erinnerten mich komischerweise an den Schauspieler von Hangover, nur hatte Professor Chang eine Brille. Mit seinem schelmischen Lächeln und den vielen kleinen Lachfalten um seine Augen war er mir sofort sympathisch. Mein erster Eindruck sollte sich in den nächsten Minuten bestätigen.

,,Ich begrüße Sie alle ganz herzlich in dem Modul Geschichte Südostasiens: Mogul-Herrschaft und regionale Staatenbildung in vorkolonialer Zeit. Wie Sie alle bereits wissen, ist dieses Semester ausschlaggebend für Ihr weiteres Studium. Sie haben die Möglichkeit, sich innerhalb dieses Moduls zu spezialisieren, um später im Forschungsgebiet rund um die Geschichte Asiens eine Abschlussarbeit abzulegen. Sie können mich Professor Chang nennen. Ich werde sie fortan auf ihrer Reise durch die Geschichte Asiens begleiten.''

Seine warme, aber doch kräftige Stimme schallte durch den Vorlesungssaal, während alle Augen gebannt auf ihn gerichtet waren. Ich hatte gleich zu Beginn vermutet, dass er einer dieser Professoren war, zu denen man prinzipiell aufschaute. Seine Präsenz nahm den gesamten Saal ein und doch war da keine Spur von Dominanz. Sein Lächeln, das nicht aufgesetzt wirkte, ließ mich sicher fühlen und ich wusste, dass ich mit der Wahl des Kurses die richtige Entscheidung getroffen hatte.

Er verschränkte seine Hände hinter dem Rücken und ging bedacht ein paar Schritte nach vorn. ,,Unser Lehrstuhl hat für Sie, liebe Studenten, ein ganz besonderes Programm auf die Beine gestellt, von dem viele Jahrgänge vor Ihnen bereits profitiert haben.'' Er machte eine kurze Kunstpause, um Spannung aufzubauen. Da haben wir wohl einen kleinen Dramatikliebhaber unter uns. ,,Nach Abschluss eines jeden Sommersemesters werden die zwei jahrgangsbesten Studenten ausgewählt, um an einem Austauschprogramm teilzunehmen. Ihnen wird die Chance geboten, ein Jahr mit einem Vollzeitstipendium an der Universität Seoul zu studieren. Dabei können Sie mit unseren Partnern aktiv an einem der vielen Forschungsprojekte mitwirken.''

Wieder ließ er eine dramatische Pause. Langsam glaubte ich, er war nebenberuflich Theaterschauspieler. So wie er den Raum zu seiner Bühne machte, würde es mich nicht wundern.

,,Ich muss an dieser Stelle sicherlich nicht betonen, wie wichtig dieses Semester für Sie ist. Strengen Sie sich an und zeigen Sie mir Ihr Bestes. Ich bin sicher, dass am Ende großartige Ergebnisse bei ihren Abschlussarbeiten herauskommen werden'', betonte er jedes Wort. Dabei trug er immer ein breites Lächeln auf den Lippen.

Someday we'll see each other againWhere stories live. Discover now