Someday we'll see each other again

Kapitel 42

Vor zwei Monaten hätte ich niemals gedacht, dass ich mit dem Kopf auf Ravens Brust hier in diesem Zimmer liegen würde und seinem regelmäßigen Herzschlag lauschte. Ich klammerte mich an ihn, als wäre er meine Rettungsleine und ich drohte zu ertrinken. Er hatte die Arme fest um mich geschlossen, als wollte er mir Schutz und Sicherheit geben. Doch seine Wärme war es, die mich wie ein durchsichtiger Vorhang vor der eisigen Dunkelheit bewahrte. Es fühlte sich surreal an, ausgerechnet mit Raven in Evans und meinem alten Kinderzimmer zu übernachten. Zum ersten Mal seit drei Jahren war ich nicht mehr allein hier. Trotzdem starrte ich wie immer, wenn ich hier lag, auf das leere Bett neben mir, das einst Evan gehörte. Es kam mir vor, als wäre es Ewigkeiten her, dass wir uns bis spät in die Nacht Geschichten ausgedacht hatten und ich manchmal in der Dunkelheit unter seine Bettdecke geschlüpft war, da ich mich vor den Schatten des alten Apfelbaumes, der vor unserem Fenster stand, immer gefürchtet hatte.

Noch immer schlängelten sich die Schatten gespenstisch an den Wänden entlang, doch ich hatte schon längst keine Angst mehr vor ihnen. Vielleicht weil ich wusste, dass mir die Dunkelheit nie so viel nehmen konnte wie das, was mir bereits entrissen wurde. Wahrscheinlich vermisste ich nur das Gefühl, in Evans Armen zu liegen und die Möglichkeit zu haben, mich an ihn zu kuscheln. Aber das konnte ich nicht, denn er war nicht hier bei mir.

Ich löste meinen Blick von dem hölzernen Bettgestell und ließ meine Augen durch das Zimmer schweifen. Die Straßenlaterne erhellte den Raum, sodass ich jede Kontur des Raumes ausmachen konnte. Alles an diesem Ort erinnerte mich an meine Familie.

Die blassgelben Wände, von denen an einigen Stellen die Tapete schon abbröckelte, waren voll von Fotos, die mein Dad von uns gemacht hatte. Er nannte dieses Zimmer den Raum der Erinnerung. Früher war es sein Kinderzimmer gewesen, bis er es für uns umdekorierte, als Evan auf die Welt kam. Meine Mom hatte mir einmal erzählt, dass Dad den ganzen Sommer, als sie mit mir schwanger gewesen war, damit verbracht hatte, das Zimmer für uns herzurichten. Sie meinte, er wollte für uns einen Ort schaffen, an dem Erinnerungen immer lebendig sein würden. Über die Jahre füllte sich dieser Raum mit Fotoabzügen, die für immer Bestand haben sollten. Nur nicht im realen Leben.

Dieser Raum war für mich so viel mehr als diese Fotos, die mich daran erinnerten, wie vollkommen mein Leben einmal war. Jeden Sommer hatten Evan und ich hier verbracht. Wir haben Höhlen aus Decken gebaut und Kassetten gehört, bis wir eingeschlafen waren. Jeden Abend kam Grandpa zu uns ins Zimmer und hatte uns Geschichten vorgelesen.

Dad hatte Recht gehabt. Es war ein Raum voller Erinnerungen, die mir nun viel zu präsent waren. Hier lebte die Vergangenheit und ich war ein Teil davon, da ich mit meinem Herzen immer an diesem Ort geblieben war. Es machte mich zutiefst traurig und ich konnte nicht akzeptieren, dass dieser Raum nie erweitert werden würde. Denn was brachte es, Fotos von mir aufzuhängen, die mir nur vor Augen führten, dass ich die Einzige war, die diese Erinnerung hatte und ich allein zurückgeblieben war.

,,An was denkst du?'', unterbrach Raven die Stille und fuhr mir mit der Hand sanft über den Arm. Instinktiv kuschelte ich mich noch näher an ihn. Sein Duft nach Wald und Regen vermischte sich mit dem Geruch des Zimmers nach Holz und Vanille. Es fühlte sich an, als wäre ich endlich wieder zu Hause, nachdem ich eine lange Zeit fort gewesen war.

,,An nichts Besonderes. Dieses Zimmer trägt nur so viele Erinnerungen in sich.''

,,Tut es dir sehr weh, hier zu sein?'', flüsterte er, während er mich näher an sich drückte.

,,Mehr als ich es in Worte fassen kann. Ich fühle mich eingeengt und doch ist es mein Zufluchtsort. Ich bin glücklich, wenn ich die Fotografien betrachte und doch ertrage ich es nicht, sie anzuschauen. Dieses Zimmer war einmal voller Leben, doch jetzt wirkt es leer und unvollkommen, als wäre seine Seele ausradiert worden.''