Kapitel 38

401 47 94
                                    

Erschöpft rieb ich mir die Augen. Ich hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan. Zu sehr war ich damit beschäftigt gewesen, über den vergangenen Abend nachzudenken. Ich musste erst einmal verarbeiten, was in so kurzer Zeit alles geschehen war. Immer wieder blitzten Ravens warme Augen in meinem Geist auf und jedes Mal setzte mein Herz einen Schlag aus, wenn ich an ihn dachte. Ich konnte noch immer nicht richtig glauben, dass er Gefühle für mich entwickelt hatte. An mir gab es nichts Besonderes oder Aufregendes. Ich war eher ein ruhiger, zurückhaltender Mensch, der Risiken normalerweise aus dem Weg ging. Denn wenn man nichts riskierte, hatte man auch nichts zu verlieren.

Doch gerade eben tat ich genau das Gegenteil. Ich warf all meine Grundsätze über Bord und lief geradewegs in eine Zukunft, die ich nicht steuern konnte. Alles, was außerhalb meiner Komfortzone lag, bereitete mir enorme Angst. Nichts fürchtete ich mehr, als nicht zu wissen, was kommen würde. Denn wenn ich die Kontrolle verlor, hatte ich nichts, an das ich mich klammern könnte, wenn ich fiel.

Und Raven war wie ein großes schwarzes Loch, das mich immer mehr zu sich zog, bis es mich irgendwann ganz verschluckte. Schon jetzt war ich von seinem Schatten umhüllt, der mir die Illusion gab, er könnte mich vor all dem Schmerz beschützen. Doch irgendwann würde mich auch sein Schatten verlassen, sodass ich wieder schutzlos auf mich allein gestellt war. Denn das hatten Menschen so an sich. Sie verlassen dich. Das würde auch Raven irgendwann. Nur wusste ich nicht, wie ich es schaffen sollte, diesen Gedanken zu ertragen. Trotzdem musste ich mich schon jetzt darauf vorbereiten, ihn zu verlieren.

Denn eins hatte mich die Vergangenheit gelehrt: Nichts blieb ewig bei dir. Die Ewigkeit war ein Trugbild, dass wir Menschen erschufen, um die Realität erträglicher zu machen und die Hoffnung zu bewahren, dass wir mehr waren als nur ein Moment. Doch waren Raven und ich mehr als das? Könnte er mein Neuanfang sein? Könnte ich durch ihn wieder ganz werden?

Obwohl wir so unterschiedlich waren? Könnte das mit uns beiden tatsächlich funktionieren? War ich für ihn mehr als ein Moment?

Denn das war er für mich. Das erste Mal, als ich ihn wiedergesehen hatte, hatte ich so etwas wie Hoffnung gespürt. Ich konnte diese Flut aus widersprüchlichen Gefühlen, die ich für ihn die ganze Zeit hatte, bis jetzt nicht richtig einordnen. Sein Verhalten irritierte mich und ließ mich zweifeln, ob ich mir all das zwischen uns nur eingebildet hatte. Trotzdem zog mich immer etwas zu ihm, auch wenn ich mich gezwungen hatte, diesem Gefühl nicht nachzugehen.

Ich glaube, ich war schon hoffnungslos am Ertrinken gewesen, als ich ihm das erste Mal in die Augen gesehen hatte. Egal, wie sehr ich mich versuchte von ihm fernzuhalten, die Distanz zwischen uns wurde immer kleiner.

Vielleicht sollte es genauso sein.

Vielleicht waren wir dazu bestimmt, uns zu finden.

Vielleicht konnten wir uns gegenseitig heilen.

Vielleicht waren wir wirklich mehr als nur ein Moment.

Vielleicht würde ich am Ende nicht verletzt werden.

Vielleicht musste ich dieses Risiko eingehen.

Vielleicht war das der einzige Weg, um diesen Schmerz zu überwinden und endlich mich selbst wiederzufinden.

Oder es passierte genau das, wovor ich am meisten Angst hatte. Er würde gehen, ohne sich noch einmal nach mir umzudrehen. Denn ironischerweise schien genau das mein Schicksal zu sein.

Ein Schnipsen vor meinen Augen katapultierte mich in die Realität zurück.

Alice stand grinsend mit einem Arm in die Hüfte gesteckt vor mir und schaute mich wissend an.

,,Naaaaaa? Denkst du gerade an deinen Loverboy?'' Unterstützend zu ihrer Aussage wackelte sie anzüglich mit den Augenbrauen. Wenn sie nur wüsste, seufzte ich.

Someday we'll see each other againUnde poveștirile trăiesc. Descoperă acum