Kapitel 12

546 76 158
                                    

,,Manchmal wird mir bewusst, was für ein schmaler Grat zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte, verläuft, wie viele Möglichkeiten von uns es hätte geben können, dass alles von einem einzigen Moment abhängt."

- Als gestern noch morgen war, Claire Dyer


Die letzten Sonnenstrahlen waren am Horizont zu sehen, während der Mond bereits seinen Platz am Himmelszelt einnahm. Ich mochte es schon immer, dieses Phänomen zu beobachten. Ich schloss die Augen und dachte an die vielen Abende zurück, wo ich mit meiner Mom zusammen den Sonnenuntergang beobachtet hatte.

Als ich noch klein war, erzählte mir meine Mom, dass die Sonne den Mond so sehr lieben würde, dass sie jede Nacht unterging, nur um den Mond atmen zu lassen. Damals wusste ich noch nicht, was das genau zu bedeuten hatte, doch heute fühlte ich es umso mehr. Diese Tragödie, welche sich jeden Abend am Himmel abspielte, beruhigte mich und half mir dabei, mich weniger einsam zu fühlen. Denn wenn diese beiden jeden Tag diesen Schmerz und die Sehnsucht zueinander aushielten, würde ich auch die Kraft dazu finden.

An Tagen wie diesen, an denen ich mich verloren fühlte und versuchte, in der Poetik des Sonnenuntergangs meinen Schmerz zu betäuben, kam es mir manchmal so vor, wenn ich nur kurz die Augen schloss, als wäre meine Mom noch hier. Neben mir. Es schien, als würde ihr Duft nach Vanille und Pfirsich in der Luft hängen und sie würde mir Geschichten über das Universum erzählen.

Noch ein bisschen länger versuchte ich mich in dieser Illusion gefangen zu halten, die einst meine Realität war.

Ganz vorsichtig öffnete ich die Augen. Da war kein Vanilleduft, keine Sonne, nur der Mond und ich.

Genauso, wie der Tag begonnen hatte, würde er auch enden. Mit meiner Decke um die Schultern gewickelt, stand ich von meinem Fensterplatz auf und holte mein Handy aus meiner Jackentasche. Ich starrte mehrere Minuten auf den Kontakt, ohne die Nummer zu wählen.

Es war schon viel zu lange her, dass ich angerufen hatte.

Seufzend drückte ich auf den grünen Hörer.

Ich brauchte sie jetzt.

Nach wenigen Sekunden wurde der Anruf entgegengenommen. Die liebliche Stimme meiner Grandma flüsterte mir entgegen und ich spürte sofort, wie mir augenblicklich warm wurde.

,,Hallo meine Kleine, ich habe dich vermisst.''

Unwillkürlich traten mir Tränen in die Augen, doch ich versuchte, sie mit allen Mitteln zurückzuhalten.

,,Oma, ich habe dich auch vermisst'', wisperte ich mit brüchiger Stimme.

Es wurde kurz still am anderen Ende der Leitung. Nur ihre leisen Atemgeräusche zeigten mir, dass sie noch am Telefon war.

,,Es ist wieder einer dieser Tage, habe ich recht, mein Kind?'' Ich konnte Besorgnis aus ihrer Stimme heraushören und es versetzte mir einen Stich, dass ich diese Gefühle in ihr auslöste und sie mit meinen Problemen belastete. Sie und Grandpa hatten mit Evan schon genug Probleme, da sollten sie sich nicht mit mir herumschlagen müssen. Obwohl ich wusste, dass sie nie so denken würden, fühlte ich mich ein bisschen schuldig. Immerhin hatte ich das Privileg noch leben und atmen zu dürfen, während dem Rest meiner Familie dieses Glück nicht vergönnt war.

Ein Schluchzen verließ meinen Mund, bevor ich es aufhalten konnte.

,,Ich fühle mich so leer und es scheint nichts zu geben, was diese Leere füllen könnte.
Ich weiß nicht. Ich hasse einfach momentan das, was in mir ist. Da ist wie ein Knoten in mir, den ich nicht lösen kann und der jeden Tag schmerzt.'' Ich schluckte erstickt und biss mir auf die Lippen, um das Zittern zu unterdrücken.

Someday we'll see each other againजहाँ कहानियाँ रहती हैं। अभी खोजें