Kapitel 33

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,,Es hat mich gestört, dass sie mich nicht erkannt hat.''

Wie wenn man bei einem Film immer wieder an eine bestimmte Stelle zurückspult, wiederholte sich dieser Satz in meinem Kopf. Der nagenden Schmerz, den ich spürte, als er diese Worte aussprach, hatte sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt. Seine Offenheit Alice gegenüber war für mich wie ein Schlag ins Gesicht. Er hatte so viele Gelegenheiten gehabt, mir all das zu erzählen, doch er hatte es nicht getan. Ich wusste, dass dieses Gespräch nicht für meine Ohren bestimmt gewesen war. Trotzdem konnte ich die Lawine aus Gefühlen, die sein Geständnis in mir auslöste, nicht aufhalten. Eine Mischung aus Schock, Angst und Verrat bündelte sich in meinem Inneren.

Je öfter ich später in sein Gesicht sah, umso enger zog sich dieser Knoten zusammen. Vergeblich versuchte ich in seinen Augen eine Antwort auf meine Fragen zu finden, doch genau das war das Problem mit Raven. Er ließ nicht zu, dass andere in ihm lesen konnten. Ich wünschte, ich könnte meine Gefühle genauso vor ihm verbergen, wie er vor mir. Doch für ihn schien ich ein offenes Buch zu sein.

Ein starker Windstoß wirbelte mir die Haare ins Gesicht. Instinktiv zog ich die Jacke enger um meinen Körper und setzte die Kapuze auf. Das Rauschen der Wellen und das leise Pfeifen des Windes beruhigten mich. Tief inhalierte ich die salzige Meeresluft und erlaubte mir das erste Mal seit drei Jahren wieder richtig zu atmen. Ich schloss für wenige Sekunden meine Augen und genoss dieses wohltuende Gefühl der Ruhe und Ausgeglichenheit. Leider hielt dieser Augenblick nicht lange an. Etwas Spitzes berührte mich an der Schulter und zwang mich, meine Augen zu öffnen.

,,Du sollst den Müll aufsammeln und nicht gedankenverloren in der Weltgeschichte umherschauen. Von selbst wird der Strand nicht sauber.''

Gottverdammt Alice.

Augenverdrehend drehte ich mich zu ihr um. Mit einem frechen Grinsen im Gesicht und einer hochgezogenen Augenbraue lächelte sie mir provokant entgegen. In solchen Momenten war ich mir sicher, dass Satan eine Tochter hatte.

,,Ich habe doch nur kurz...''

,,Was? Geatmet?'', unterbrach sie mich.

,,Ja! Darf ich das nicht?'', entgegnete ich zickiger, als ich beabsichtigt hatte.

,,Mensch Aza, das war doch nur Spaß. Was ist denn los mit dir? Seitdem wir gestern gelandet sind, verhältst du dich komisch. Ist irgendetwas passiert, von dem ich wissen sollte?''

Dass sie mir diese Frage überhaupt stellte, versetzte mir einen Stich. Wie konnte sie weiterhin so tun, als wäre sie ahnungslos? Ehrlich gesagt hatte ich erwartet, dass sie mir von dem Gespräch mit Raven berichtete. Sie hätte mir nicht mal Details erzählen müssen. Ich dachte, sie wäre in dieser Hinsicht ehrlich mir gegenüber, doch aus irgendeinem Grund war sie das nicht.

Zudem wusste ich nicht, wie ich mich nun Raven gegenüber verhalten sollte. Es machte mir Angst, dass er so viel von meiner Vergangenheit wusste. Gleichzeitig machte ich mir Vorwürfe, dass ich nichts davon geahnt hatte. All seine Versteckspiele, sein seltsames Verhalten und die vielen kleinen Hinweise, ergaben nun einen Sinn. Vielleicht spürte ich deshalb seit dem ersten Moment diese Anziehung zwischen uns. Es war wie nach Hause kommen, wenn man eine lange Zeit fort gewesen war.

Doch egal, wie groß unsere Anziehung auch sein mochte, es änderte nichts an dem Gefühl, verraten worden zu sein. Die Angst, die tief in meinen Knochen saß und an meiner Seele nagte, hielt mich zurück, ihm blindlings zu vertrauen. Denn Raven verfügte über eine Macht, die ich nie wieder abgeben wollte. Er kannte meine Vergangenheit, meine Schwachpunkte, meinen Schutzraum. Es war vor ihm ausgebreitet wie auf einem Serviertablett. Obwohl ich alles versucht hatte, meine Mauern aufrechtzuerhalten. Doch Raven hatte sie rücksichtslos zum Einsturz gebracht. Sein Wissen ließ mich nackt und ungeschützt fühlen. Nun saß ich hier zwischen den Trümmern und fragte mich, wie ich mich retten konnte.

Someday we'll see each other againWo Geschichten leben. Entdecke jetzt