Kapitel 41

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,,Was mache ich, wenn ich mich zwischen zwei Dingen nicht entscheiden kann?''

,,Du wirfst eine Münze'', antwortete Evan.

,,Und wenn ich dem Zufall nicht meine Wahl bestimmen lassen möchte?''

,,Dann wirfst du trotzdem eine Münze. Es geht nicht darum, ob am Ende Kopf oder Zahl nach oben zeigt. Sondern das, was du dir insgeheim wünscht, wenn du die Münze in die Luft wirfst. In diesem Moment weißt du, für was du dich entscheidest.''

,,Was ist, wenn ich mich am Ende falsch entscheide?''

,,Es geht nicht um richtig oder falsch, Aza. Das Wichtigste ist, dass du mit deiner Wahl leben kannst und es nicht bereust.''

,,Aber was passiert, wenn meine Entscheidung Konsequenzen mit sich zieht, von denen ich nicht weiß, dass sie auftreten können?''

,,Niemand von uns kann in die Zukunft sehen. Manchmal müssen wir Risiken eingehen, um etwas zurückzubekommen, nach dem wir uns so lange gesehnt haben. Auch wenn es bedeutet, am Ende zu scheitern. Wichtig ist, dass du dich für eine der beiden Möglichkeiten entscheidest und mutig bist, in eine dieser Richtungen zu gehen. Das Schlimmste, was du machen kannst, ist stehen zu bleiben. Denn dann wirst du dich immer fragen, was gewesen wäre, wenn du dich getraut hättest.''

Während ich die trostlose Landschaft betrachtete, die stetig an mir vorbeizog, ohne dass sie sich änderte, erinnerte ich mich an dieses Gespräch, das ich mit Evan einmal geführt hatte. Ich war schon immer ein Mensch gewesen, der zu viel nachgedacht hatte. Zudem war ich unsicher und hatte Angst, Risiken einzugehen. Da ich wusste, wie einfach es war, sich zu verlaufen und den Rückweg nicht wiederzufinden. Denn ich fand mich nicht nur in der Welt da draußen nicht zurecht. Auch mein Inneres glich einem verwinkelten Labyrinth mit zu hohen Mauern und viel zu engen Gängen.

Für mich war es noch nie einfach gewesen, Entscheidungen zu treffen. Ich fürchtete mich vor den Konsequenzen, also vermied ich es so oft es mir möglich war. Wenn ich dann vor die Wahl gestellt wurde, entschied ich mich meistens für die Sache, die mir am wenigsten Schaden zufügen konnte. Ich hatte mich immer gefragt, warum ich so war und aus welchem Grund ich Menschen auf Distanz hielt. Vielleicht, weil es so ruhiger war. Ich mochte es nicht, wenn andere Menschen mir zu nahekamen, denn das hieße, ich müsste mich entscheiden, Platz für sie zu machen oder sie zu vergraulen. Denn Nähe bedeutete Liebe und Liebe bedeutete Schmerz.

Zu diesem Zeitpunkt des Gesprächs wusste ich noch nicht, wie es sich anfühlte, täglich Schmerzen zu fühlen. Als ich zwölf war, hatte ich einmal einen Fahrradunfall gehabt, wo ich genäht werden musste. Damals dachte ich, dass nichts so weh tun könnte, wie die Nadel, die immer wieder durch meine Haut gebohrt wurde. Doch als ich siebzehn wurde und ich zusehen musste, wie meine Mom durch die Windschutzscheibe geschleudert wurde und reglos auf der Motorhaube liegen blieb, wusste ich, wie sich realer Schmerz anfühlte. Er war schlimmer als jeder körperliche Schmerz, den ein Mensch fühlen konnte. Denn kein Medikament der Welt könnte mir diesen Schmerz nehmen, da diese Bilder sich fest in meinem Kopf eingenistet hatten. Wie ein Geschwür pochten sie hinter meiner Schläfe und erinnerten mich täglich daran, was ich verloren hatte.

Und das alles nur, weil ich an diesem Tag eine Entscheidung getroffen hatte. Auch wenn Evan fest davon überzeugt gewesen war, dass es keine richtigen oder falschen Entscheidungen gab, wusste ich nun, dass er falsch lag.

Es gab falsche Entscheidungen und ich hatte eine davon getroffen. Wir hätten zu Hause bleiben sollen, wie jedes Jahr. Ich hätte mir nicht wünschen dürfen, in dieses Restaurant zu fahren, nur um meinen Magen zu füllen. Ich hätte darauf bestehen müssen, vorne zu sitzen. Denn dann würde meine Mom noch leben und ich müsste nicht täglich mit der Schuld leben, verantwortlich für ihren Tod zu sein.

Someday we'll see each other againWhere stories live. Discover now