Kapitel 2

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Man sagt, wenn man stirbt, zieht das ganze Leben an einem vorbei, wie ein Film, der alle glücklichen und traurigen Momente noch einmal abspielt.

Doch so war es nicht.

Nicht bei mir.

Das Einzige, was ich sah, war Dunkelheit.

Eine gefühlte Ewigkeit war ich gefangen in dieser Schwärze.

Verzweifelt drehte ich mich im Kreis und suchte nach einer kleinen Lichtquelle.

Doch da war kein Licht, sondern nur die Finsternis und ich.

Ich schrie.

Doch niemand hörte mich.

Ich war allein und ohne Gewissheit, diesem Albtraum jemals zu entkommen. Denn ich war gefangen in meiner eigenen persönlichen Hölle und ich wusste nicht, wie lange ich noch durchhalten würde, bevor ich eins wurde mit der Schwärze.

Die Dunkelheit verschlang mich. Sie trieb mich in die Ecke und raubte mir das letzte bisschen Hoffnung, das noch in mir weilte. Wenn sich so sterben anfühlte, dann war es trostlos und einsam. Doch ich war nicht tot. Aber auch nicht lebendig.

Nur manchmal, da konnte ich das Licht sehen und wie es versuchte, die Dunkelheit zu durchbrechen. Dann hörte ich einzelne Stimmen, die so weit entfernt waren, dass ich sie nicht verstehen konnte. Ich versuchte, sie zu erreichen. Mit aller Kraft, die ich noch aufbringen konnte, rief ich nach ihnen. Doch die Dunkelheit war schneller als ich und so vergrub sie das Licht und somit all meine Hoffnungen, diesem Ort jemals entfliehen zu können.

Nach und nach verlor ich jegliches Zeitgefühl. Wie lange war ich nun schon hier? Es mussten Tage sein. Oder vielleicht auch schon Wochen? Ich wusste es nicht. Hier, in der endlosen Schwärze, verging die Zeit anders. Quälend langsam tickte sie unaufhaltsam vor sich hin, während ich ihr völlig ausgeliefert war.

Aber auch, wenn ich es mir nicht eingestehen wollte, war ich hier sicher vor dem Schmerz, der mir jegliche Luft zum Atmen nehmen würde, wenn ich aufwachte. Denn das war das einzig Gute an diesem Ort. Ich fühlte keinen Schmerz. Und doch vernahm ich in mir eine unsagbare Leere, von der ich wusste, dass ich sie nie wieder füllen konnte. Denn ich erinnerte mich an alles, was passiert war.

Noch immer sah ich die blutüberströmten Gesichter meiner Eltern vor mir und den Rauch, der sich um meine Hände schlängelte und meine Sicht trübte. Ohne dass ich die Gelegenheit hatte, mich von ihnen zu verabschieden, bevor sie mir endgültig entrissen wurden. Tief in mir war noch ein Funke Hoffnung, dass sie ihren letzten Atemzug nicht in diesem Wagen genommen hatten und sie bei mir sein würden, wenn ich aufwachte. Doch ein Gefühl sagte mir, dass all das nicht passieren würde.

Plötzlich vernahm ich aus der Ferne meines Bewusstseins zwei Stimmen. Es war das erste Mal, dass sie nicht miteinander verschwammen. Sie waren undeutlich, doch ich konnte einige Gesprächsfetzen verstehen.

Die Dunkelheit brach immer weiter auf und ich rannte hin zum Licht. Erleichterung überkam mich und ich streckte meine Hand nach der Lichtquelle aus. Doch je näher ich dem Licht kam, umso mehr spürte ich den Schmerz, der meine Seele immer fester umklammerte. Als würde all die Dunkelheit verschwinden und in mir ihren neuen Platz finden. Fest entschlossen näherte ich mich den Stimmen, die nun immer deutlicher wurden. Ich öffnete meinen Mund und schrie aus voller Kehle, dass ich sie hören konnte. Doch kein Laut kam über meine Lippen. Mein Körper rührte sich nicht. Tränen der Verzweiflung traten mir in die Augen. Ich würde jetzt nicht aufgeben. Nicht, wenn ich kurz davor war, endlich aufzuwachen.

Plötzlich war ich wieder in meinem Körper.

Das Erste, was ich spürte, war ein schneidender Schmerz, der sich in meinem gesamten Körper ausbreitete. Es war nicht nur der physische Schmerz, der mich bewegungsunfähig machte. Die Gewissheit, dass der Unfall ein reales Ereignis war, nahm mir die Luft zum Atmen. Ich hatte überlebt. Doch was war mit dem Rest meiner Familie?

Die leblosen Gesichter meiner Eltern und meines Bruders tanzten vor meinen inneren Augen und ließen die Tränen in mir aufsteigen. Die Angst lähmte mich fast vollständig. Nur am Rande bekam ich mit, wie eine weibliche Stimme mit einem stark britischen Akzent etwas zu der anderen Person sagte.

»...Beileid. Ihre Enkelin ist außer Lebensgefahr und stabil. Es könnte noch einige Tage dauern, bis sie wieder aufwacht. Sie hat eine tiefe Wunde am Bauch und einige Brandwunden am Rücken, die fortlaufend medizinisch betreut werden müssen. Sorgen Sie sich nicht, sie ist eine Kämpferin.«

Daraufhin ertönte ein lautes qualvolles Schluchzen und ich spürte, wie jemand meine Hand ergriff und sie fest umklammerte. Mein Körper stand in Flammen und gleichzeitig tobte eine eisige Kälte in mir. Doch meine Hand, die jemand fest umfasst hielt, fühlte sich angenehm warm an. Ich klammerte mich an diese Wärme, denn sie war das Einzige, was mich zusammenhielt. Mein Blick flackerte und die Person verwandelte sich zu einem grauen Fleck. Die Erschöpfung übermannte meinen Körper, während die Dunkelheit mich zurück in seine Fänge zog. Doch ich wollte noch nicht gehen.

»Aza, wenn du mich hören kannst, bitte wach auf. Ich kann dich nicht auch noch verlieren«, schluchzte die Stimme.

Sie kam mir bekannt vor, doch ich war zu müde, um darüber nachzudenken. Die mir allzu bekannte Schwärze baute sich vor mir auf und trübte das Licht. Mein Kopf drehte sich unkontrolliert. Die Stimmen nahm ich nur noch gedämpft wahr.

Immer mehr entglitt ich der Realität. Doch vielleicht war das auch gut so. Denn dann musste ich den Schmerz nicht spüren. Lieber war ich leer, als dass ich gleichzeitig verbrannte und erfror. Am Rande meiner Wahrnehmung hörte ich, wie die Geräte anfingen lautstark zu piepen.

»Doktor, ich dachte, es ginge ihr gut. Bitte, wach auf Aza!«, rief eine verzweifelte Stimme unscharf.

Die Wärme verließ meinen Körper und ich verlor jegliche Kontrolle über mein Bewusstsein.

Die Wärme verließ meinen Körper und ich verlor jegliche Kontrolle über mein Bewusstsein

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Someday we'll see each other againWhere stories live. Discover now