Kapitel 50

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Die vergangene Nacht war nicht spurlos an mir vorbeigegangen. Meine Träume waren erfüllt von Raven und dem Moment, als er mir förmlich entgegenspuckte, dass er mich nicht in seinem Leben brauchte. Sein wutverzerrtes Gesicht hatte sich in meinem Kopf festgesetzt und ich bekam es da nicht mehr heraus. Dann wechselte der Traum. Ich lag auf dem kleinen Sofa im Krankenhaus, das in den letzten Wochen zu meinem neuen Bett geworden war. Ich hatte die Augen geschlossen, doch ich konnte spüren, wie jemand meine Wange berührte. Als ich meine Augen öffnete, um zu sehen, wer mich gestreichelt hatte, sah ich Raven, der sich immer weiter von mir entfernte. Ich schrie ihm nach, er solle zu mir zurückkommen. Doch er ging, ohne sich noch einmal nach mir umzudrehen.

Ich stützte meine Hände an dem notdürftigen Waschbecken ab. Kurz hatte ich die Befürchtung, die Konstruktion könnte unter meinem Gewicht auseinanderbrechen. Aber es passierte nichts. Glücklicherweise schien wenigstens etwas in diesem Zimmer stabil zu sein. Meine Haare hingen mir lose ins Gesicht, während ich noch einmal tief durchatmete. Heute war der Tag gekommen, an dem ich Evan verlassen musste. Auch wenn es nur für eine Woche war, musste ich zurück an die Uni. Obwohl die Uni der letzte Ort war, an dem ich momentan sein wollte.

Früher oder später wärst du ihm sowieso begegnet, erinnerte mich meine neunmalkluge innere Stimme.

Das machte es aber nicht besser. Ich fühlte mich noch nicht bereit, ihm gegenüberzutreten. Wie würde unsere erste Begegnung ablaufen? Würde er mich ignorieren? Ich könnte es nicht ertragen, wenn er sein Leben weitergelebt hätte, während sich mein Herz noch immer in seinem Zimmer befand. Vermisste er mich genauso wie ich ihn? Wahrscheinlich nicht. Sonst hätte er sich bestimmt gemeldet.

Vielleicht hatte er genauso viel Angst wie du.

Vielleicht...

,,Sag mal, Aza, hast du Wurzeln geschlagen? Was machst du so lange da drinnen?'', rief Evan mit stockender Stimme und holte mich somit zurück in die Realität. Damit ersparte er mir länger über dieses Thema nachzudenken. Fragen, auf die ich sowieso keine Antwort hatte.

,,Ich komme'', antwortete ich ihm, während ich mit zittrigen Händen das Glas mit Wasser füllte.

Bevor ich die Badezimmertür aufstieß, atmete ich noch einmal tief durch und setzte ein Lächeln auf. Evan sollte sich keine Sorgen um mich machen. Er brauchte keine traurige kleine Schwester, die schwach war, sondern eine fröhliche, positiv gestimmte Schwester, die ihm ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Nur weil es mir nicht gut ging, bedeutete das nicht, dass Evan darunter leiden musste.

Mein Lächeln war breiter als ich es beabsichtigt hatte, als ich die Tür mit dem Fuß aufstieß und wild durch das Zimmer wuselte. Ich ließ Evan nicht zu Wort kommen. So konnte er wenigstens nicht bemerken, dass mit mir etwas nicht stimmte.

,,So hier ist dein Glas Wasser. Ich habe die Schwestern schon gebeten, dass sie dir jeden Abend ein Glas Wasser bereitstellen'', plapperte ich darauf los und griff nach dem Strohhalm, der neben dem Fotorahmen auf dem Beistelltisch lag. Ohne auf seine Reaktion zu warten, steckte ich ihm den Strohhalm in den Mund. Nachdem er kurz eine Augenbraue hob, trank er einen Schluck und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch ich unterbrach ihn.

,,Grandma und Grandpa werden dich jeden Tag besuchen. Mach dich auf etwas gefasst. Grandpa hat ein neues Spiel für sich entdeckt. Das wird dich in den Wahnsinn treiben. Du bist so schlecht darin, zu verlieren und Grandpa hat bis jetzt jedes Spiel gewonnen. Du kannst dich also schon mal darauf einstellen, eine Niederlage nach der anderen einzukassieren. Ach und fast hätte ich es vergessen. Hab dein Handy immer griffbereit und ruf an, falls irgendetwas ist. Ich werde meins immer angeschaltet lassen. Du kannst immer anrufen, egal wann, hast du gehört? '', fragte ich ihn mit eindringlicher Stimme und deutete auf sein Handy, bei dem ich befürchtete, dass es nicht mehr lange durchhalten würde.

Someday we'll see each other againWhere stories live. Discover now