Kapitel 47

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"When you love people, you want what's best for them, and sometimes what's best for them isn't you."

— J.M. Darhower, Torture to Her Soul


Es war jetzt zwei Wochen her, dass Alice in den frühen Morgenstunden nach unserem Gespräch wie ein tollwütiges Tier zurück ins Zimmer gestürmt kam und sich mit Anlauf auf mich geschmissen hatte. Ihr Glück, dass ich ihre lauten Schritte und ihr Quieken schon einige Augenblicke zuvor bemerkt hatte, sodass ich mich mental auf den Angriff vorbereiten konnte. Hätte ich tief und fest geschlafen, hätte ich wahrscheinlich einen Herzinfarkt bekommen. Doch als Alice' glockenklares Lachen den Raum erhellte, konnte ich nicht böse auf sie sein. Sie war glücklich und allein das zählte, denn das bedeutete gleichzeitig, dass das Gespräch mit Carter gut verlaufen war. Schlussendlich waren die beiden doch zusammengekommen und ich freute mich für sie.

Die ganze restliche Woche hingen sie wie zwei Kletten aneinander und ich bewunderte jeden Tag, wie sie sich am Abend doch voneinander lösen konnten. Es war schon fast peinlich, den beiden zuzusehen, wie sie sich gegenseitig anschmachteten. Jace hatte sich nach Montagabend als Alice' neuen Beschützer auserkoren. Als er am nächsten Tag von Alice erfuhr, dass die beiden sich vertragen hatten, war er geradewegs zu Carter gestürmt, der gerade die Mensa betreten hatte. Er nahm ihn zur Seite und redete so laut auf ihn ein, dass alle Umstehenden ihn gehört haben mussten.

,,Wenn du sie noch einmal so behandelst, halte ich mich nicht zurück'', drohte er ihm, ehe sich Alice dazwischen mischte und Jace mahnend anfunkelte.

Nachdem sich die Gemüter wieder beruhigt hatten, verlief der Rest der Woche ereignislos. Als am Freitag der Tag des Abschieds gekommen war, wurde mir schwer ums Herz. Auch wenn ich wusste, dass ich Alice und Jace bald wieder sehen würde, fühlte es sich seltsam an, sich von ihnen zu verabschieden. Sie waren in den letzten Monaten fast täglich um mich herum gewesen, sodass sie ein Teil von mir geworden waren. Alice würde in der zweiten Ferienwoche zu Raven, Carter und mir stoßen, da sie vorher mit ihrer Familie nach Kentucky fuhr, um Verwandte zu besuchen.

In der ersten Woche waren Raven und ich die ganze Zeit zusammen. Ab und zu hatte sich auch Carter zu uns gesellt, doch er ließ uns den Freiraum, den wir brauchten, um uns näher kennenzulernen.

Es war mittlerweile Ende Februar und doch kämpften sich die ersten Sonnenstrahlen durch die dicke Wolkendecke hindurch. In den letzten Tagen spürte ich nach einer gefühlten Ewigkeit endlich wieder die warmen Sonnenstrahlen auf meiner Haut. Man sagt, dass mit dem Einbruch des Frühlings die Hoffnung kommen würde, und zum ersten Mal glaubte ich wirklich daran. Es würde ein gutes Jahr werden. Zumindest redete ich mir das immer wieder ein. Vielleicht, um mich am Ende selbst davon zu überzeugen.

Doch heute regnete es in Strömen. Das hätte für mich ein Zeichen sein sollen, doch ich war schon immer ein Mensch gewesen, der böse Omen aus Prinzip ignorierte.

Und sehen wir uns an, zu was das geführt hat.

Ich blendete meine innere Stimme aus, die mich mahnend daran erinnerte, was ich versuchte, die ganze Zeit über zu verdrängen. Das schlechte Gewissen nagte an mir, da ich wusste, dass ich Raven gegenüber ehrlich sein musste, sonst würde ich bald platzen.

Statt ihm die Wahrheit zu sagen, verlor ich mich in dem Grau des Himmels und beobachtete, wie dicke Regentropfen ununterbrochen an das Fenster prasselten. Es kam mir so vor, als würde der Himmel mir eine Warnung zukommen lassen. Ein immenser Druck legte sich auf meine Brust und ich bekam eine Gänsehaut. Es konnte nicht ewig so weitergehen. Jedes Mal, wenn Raven mich anlächelte und mir sagte, wie glücklich er war, mich an seiner Seite zu haben, fühlte ich die Galle in mir aufsteigen, weil ich mich selbst anekelte. Würde er mich noch mit denselben leuchtenden Augen ansehen, wenn er wüsste, was ich getan hatte?

Someday we'll see each other againWo Geschichten leben. Entdecke jetzt