Kapitel 55

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Raven

Fünf Tage später saß ich allein in meinem Auto. Die Stille um mich herum erdrückte mich, umso näher ich meinem Ziel kam. Es war mittlerweile Freitagnachmittag, als ich den Highway in Richtung Norden entlangfuhr. Nervös trommelte ich mit der rechten Hand auf dem Lenkrad. Es würde nicht mehr lange dauern, bis ich zuhause war.

Am Mittwoch hatte Aza einen Anruf von ihren Großeltern erhalten, der uns seither in Alarmbereitschaft gesetzt hatte. Evans Zustand hatte sich seit Sonntagabend stark verschlechtert. Er reagierte auf keine Antibiotika und er benötige eine Sauerstoffmaske zum Atmen.

Während des Telefonats bemühte Aza sich darum, nicht die Nerven zu verlieren. Doch ich hatte gesehen, wie ihre Hände gezittert hatten, als sie das Gespräch beendete. Sie hatte die Lippen fest aufeinandergepresst, während sie sich daran machte, ein paar Klamotten einzupacken. Für Außenstehende hätte ihr Verhalten gefasst gewirkt, doch ich wusste, welcher Sturm in diesem Moment in ihr getobt hatte.

Und ich stand nur hilflos daneben und musste dabei zusehen, wie die Dunkelheit meine kleine Sonne immer mehr überschattete.

Am liebsten hätte ich sie schon am Mittwoch begleitet, aber sie bestand darauf, dass ich in meine letzten Kurse ging, da ich gerade dabei war, meinen Abschluss zu machen. In dem Moment, als sie allein in den Zug gestiegen war, hatte ich es bereut, nicht mitgegangen zu sein. Den Abschluss könnte ich auch noch in einem halben Jahr machen. Das war mir egal.

Ich hatte sie wieder einmal im Stich gelassen und das frustrierte mich enorm. Zumal ich nicht abschätzen konnte, wie sich die Lage mit Evan weiterentwickelte. Wir alle hofften, dass doch eines der Medikamente anschlug, aber mit jedem verstrichenen Tag schwand die Hoffnung in mir. Zum ersten Mal in meinem Leben kotzte es mich an, dass ich ein verdammter Realist war.

Ich konnte mir nicht vorstellen, wie unser Leben aussehen sollte, falls Evan kein Teil mehr davon sein würde. Er war über die letzten Jahre zu einem wichtigen Bestandteil meines Lebens geworden, auch wenn ich ihn erst jetzt richtig kennenlernen konnte, fühlte es sich so an, als wären wir schon ewig Freunde. Wenn ich daran dachte, in welchem Zustand wir ihn am Sonntagabend zurückgelassen hatten, zog sich der Knoten in meiner Brust enger und eine ungeheure Angst stieg in mir auf.

Wenn er ging, würde Aza daran zerbrechen.

Und ich wusste nicht, ob ich sie dieses Mal auffangen konnte.

Wenn ich mir vorstellte, dass meine Schwester Evans Schicksal getroffen hätte, wäre ich völlig am Ende. Doch Aza zeigte auch in der aktuellen Situation ihre Stärke. Als könnte sie nichts treffen. Wenn es nur wenig Hoffnung gab, würde sie sich daran klammern und sich festbeißen. Bis es zu spät war und sie nichts mehr hatte.

Ich bemühte mich nicht an dieses Endszenario zu denken und doch begleitete es mich seit Tagen. Nächtelang lag ich wach und überlegte fieberhaft, wie ich Aza in dieser schweren Zeit helfen konnte.

Obwohl ich wusste, dass sie nichts und niemanden in diesem Moment auffangen könnte.

Mir schnürte es die Brust zu, wenn ich mir vorstellte, wie meine kleine Sonne zerbrechen würde. Es durfte nicht passieren. Nicht schon wieder. Aza hatte in den letzten Jahren genug durchgemacht. Evan hatte dieses Schicksal nicht verdient.

Zähneknirschend verstärkte ich den Griff um das Lenkrad, während ich mit dem rechten Fuß das Gaspedal bediente und die Geschwindigkeit erhöhte.

Halte noch ein wenig aus, meine kleine Sonne. Gleich bin ich bei dir.

***

Nach einer halben Stunde Fahrt bog ich mit meinem Auto in unsere mit Pflastersteinen bestückte Einfahrt ein und stellte den Motor ab. Bevor ich ins Krankenhaus ging, wollte ich kurz bei meiner Mom und meiner Schwester vorbeischauen.

Someday we'll see each other againWhere stories live. Discover now