Kapitel 6

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Da Jace unbedingt den vermeintlichen Retter in der Not spielen musste, blieb mir auf dem Weg zum Wohnheim nichts anderes übrig, als mit ihm Smalltalk zu führen. Im selben Atemzug musste ich feststellen, dass er ganz anders war als mein Bruder. Jace war nicht Evan. Zumindest redete ich mir das die ganze Zeit ein, während wir nebeneinander herliefen. Er war sympathisch und schien ein großes Herz zu haben, trotz seines für meinen Geschmack zu dick aufgetragenen Selbstbewusstseins, das er an den Tag legte. Doch vielleicht gehörte es einfach zu ihm dazu. Es stand mir nicht zu, darüber ein Urteil zu fällen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen wir schließlich vor den Türen des Wohnhauses zum Stehen. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und lehnte mich erschöpft gegen die Hauswand.  Nicht nur der Gedanke, dass ich endlich dieses Gepäck abstellen konnte, erfüllte mich mit freudiger Erwartung, nein, es kam noch besser. Ich würde endlich allein sein. Zu viel sozialer Kontakt erschöpfte mich. Und auch wenn ich mich nett mit Jace unterhalten hatte, sehnte ich mich nach Ruhe. Vielleicht brauchte ich auch nur Abstand zu dem Jungen, der mich so an meinen Bruder erinnerte.

Nachdem sich Dreamy mit einem ,,Wir sehen uns'' von mir verabschiedete und ich ihm ein schmales Lächeln zugeworfen hatte, drehte ich mich um und ging durch die Türen des Wohnheims. Zahlreiche Mitstudentinnen standen mit ihren Koffern im Eingangsbereich und unterhielten sich in kleinen Grüppchen. Als ich sah, wie sich wenige Meter von mir entfernt eine Aufzugstür öffnete, entfuhr mir ein kleiner Freudenschrei. Das Gewicht meiner Taschen vergessend stürmte ich auf den Fahrstuhl zu, um diesem Höllentrip endlich zu entkommen.

Gerade als ich an der Tür ankam, begann diese sich zu schließen.

Warum hatte ich heute nur so viel Pech?

Plötzlich schob sich eine kleine Hand zwischen die sich schließende Aufzugtür.

Eine kleine Asiatin mit mandelförmigen schokobraunen Augen strahlte mir mit einem frechen Grinsen entgegen. Mit ihrem rundlichen Gesicht, der kurvigen Figur und ihren ausdrucksstarken großen Augen sah sie wirklich verdammt niedlich aus.

Bevor ich meine Taschen in den Lift manövrieren konnte, fing das Mädchen auch schon an, wie wild auf mich einzureden.

,,Du siehst aus, als hättest du einen harten Tag gehabt. Aber keine Sorge, deine schwarzen Tage sind nun vorbei, denn ich werde dir positives Karma geben. Übrigens, mein Name ist Alice und dies ist mein erstes Semester. Ich bin sozusagen Frischfleisch. Obwohl du auch nicht älter aussiehst. Bist du auch neu hier? Und deine Haare, ist das deine natürliche Farbe? Echt krass, dass...''

Wenn ich sie in diesem Moment nicht unterbrochen hätte, dann hätte sie wahrscheinlich die ganze Zeit ohne Punkt und Komma weitergeredet.

,,Was für ein Zufall. Hi, ich heiße Aza und ich glaube, du bist meine Zimmergenossin. Ein Typ von der Anmeldung hat mir gesagt, dass ich mein Zimmer mit einer Alice teilen würde. Bist du das vielleicht? ''

Lächelnd streckte ich ihr meine freie rechte Hand entgegen, doch dieses Mädchen überraschte mich erneut, als sie mich in eine stürmische Umarmung zog und plappernd hinzufügte:

,,Das muss Schicksal sein. Ich freue mich so, dass wir uns ein Zimmer teilen. Ich dachte schon, ich müsste mit irgendeiner Barbie meine wertvolle Zeit verbringen. Ich bin sicher, wir werden uns sehr gut verstehen und viel Spaß zusammen haben, das habe ich im Gefühl.''

Sie war einen Kopf kleiner als ich und reichte mir gerade mal bis zum Kinn. Ihre langen schwarzen Haare kitzelten an meinen Armen, während sie sich fest an mich klammerte. Ich musste über diesen kleinen Wirbelwind schmunzeln, der schon nach wenigen Minuten meine Welt ein bisschen besser zu machen schien, obwohl ich sie kaum kannte.

Kennt ihr dieses Gefühl, wenn ihr jemanden zum ersten Mal trefft und ihr euch auf Anhieb versteht? Genauso empfand ich die erste Begegnung mit Alice. Es fühlte sich an, als würde ihr Licht auf mich überspringen und meinem tristen Dasein ein wenig Leben einhauchen. Seit einer langen Zeit hatte ich dieses Gefühl nicht mehr gespürt. Kurz schloss ich die Augen, da ich mir eingestehen musste, dass ich dieses Gefühl von Wärme vermisst hatte und es genoss.

Schlagartig versteifte ich mich.

Ich hatte das nicht verdient.

Für einen kurzen Moment hatte ich vergessen, dass ich diese Art von Nähe in den letzten drei Jahren bewusst nicht zugelassen hatte. Mit meiner abweisenden und kalten Art hatte ich alle meine alten Freunde vertrieben, bis am Ende niemand mehr übrig geblieben war.

Nach dem Unfall hatte ich mir geschworen, nie wieder jemanden so nah an mich heranzulassen, dessen Verlust ich nicht verkraften könnte. Zwar waren die letzten Jahre besonders während meiner Abschlusszeit sehr einsam gewesen, doch ich wusste, dass es so besser war.

Ich durfte diesem kleinen quirligen Mädchen mit den ausdrucksstarken Augen nicht zu nahe treten, sonst würden meine Mauern, die ich mit aller Kraft versuchte aufrechtzuerhalten, Risse bekommen.

Alice schien meinen Stimmungswandel zu bemerken und löste sich langsam von mir. Kurz schien so etwas wie Sorge in ihren Augen aufzublitzen, doch sie ersetzte es schnell durch ein breites Grinsen.

,,Du bist anscheinend nicht so der Kuscheltyp, aber das ist nicht so schlimm. Ich werde dich einfach jeden Tag umarmen, dann haben wir das Problem schnell gelöst.''

Perplex starrte ich sie an. Mein Plan, mich von Alice fernzuhalten und eine gesunde Distanz zu wahren, schien mit jeder Minute unwahrscheinlicher.

Als sich die Fahrstuhltür öffnete, schnappte sich Alice meinen Arm und zog mich in den Gang hinaus.

,,Jetzt guck doch nicht wie drei Tage Regenwetter. Komm, wir schauen uns erstmal unser ,Luxusressort' an und dann mischen wir den Laden hier mal so richtig auf. Ich habe das gute Gefühl, dass wir uns großartig verstehen werden.''

Verdutzt starrte ich sie an.

,,Was macht dich da so sicher?''

Sie grinste verschmitzt.

,,Weil ich vorhin genau gesehen habe, wie du dir ein Lächeln verkniffen hast, als ich das mit der Barbie erwähnt habe. Ich glaube, wir teilen den gleichen Humor und das gefällt mir. Übrigens stört es mich nicht, dass du nicht sonderlich viel zu reden scheinst. Ich kann dir versichern, dass zwischen uns keine peinlichen Pausen entstehen werden. Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest – ich rede sehr viel.''

Nachdem ich schon eine längere Zeit einen inneren Kampf führte, um nicht auf der Stelle loszulachen, verlor ich ihn nun endgültig.

Einzelne Lachtränen lösten sich aus meinen Augen und ich schaute ihr entschuldigend entgegen.

,,Gut, dass du es erwähnt hast, sonst wäre mir dieser Zustand überhaupt nicht aufgefallen.''

Ihr Lächeln wurde noch breiter und ihre Wangen färbten sich leicht rot, doch sie schien sich über mich zu amüsieren.

,,Ich sagte doch Aza Davis, wir haben den gleichen Humor und Sarkasmus scheinst du auch zu haben. Das sind zwei sehr gute Eigenschaften.''

Wir erreichten schließlich das Zimmer und als ich über die Schwelle zu unserem neuen Zuhause trat, fühlte ich mich zum ersten Mal seit einer langen Zeit nicht mehr so leer.

Wir erreichten schließlich das Zimmer und als ich über die Schwelle zu unserem neuen Zuhause trat, fühlte ich mich zum ersten Mal seit einer langen Zeit nicht mehr so leer

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Someday we'll see each other againWhere stories live. Discover now