Kapitel 21

433 63 114
                                    

,,I close my eyes to pretend you're next to me, and some days I can't bring myself to open them at all.''

-Blake Auden


Da war er also. Der Tag, an dem ich gleichzeitig geboren und gestorben war.

Ein Teil von mir war immer an diesem Ort geblieben, versteckt zwischen dem Laub der Bäume und zurückgebliebenen Trümmerteilen.

Und dann an manchen Tagen, wenn es richtig schlimm war, so wie heute, traf es mich besonders schwer.

Ich atmete tief durch, als ich vor dem großen, stählernen Gebäude zum Stehen kam. Ich umklammerte krampfhaft den hellblauen Regenschirm, da ich etwas brauchte, woran ich mich festhalten konnte.

Ein kräftiger Windzug wirbelte mir die Haare ins Gesicht, doch es interessierte mich nicht. Obwohl es seit gestern Nachmittag in Strömen regnete, war ich den Weg hierher zu Fuß gegangen.

Meine Großeltern waren zu Hause geblieben, da sie wussten, dass ich lieber allein sein wollte. Für sie waren die letzten drei Jahre mit mir sehr schwer gewesen. Anfangs hatten sie Angst gehabt, mich allein zu lassen und waren zu jeder freien Minute in meiner Nähe gewesen, bis es mir irgendwann zu viel geworden war. Seitdem hielten sie einen gewissen Abstand zu mir, nicht, weil sie es wollten, sondern weil sie mir den Freiraum gaben, den ich benötigte. Ich war dankbar für ihr Verständnis und gleichzeitig hatte ich ein schlechtes Gewissen. Sie versuchten alles, damit es mir gut ging, während ich ihnen im Gegenzug nichts zurückgab.

Gestern, als ich ankam, hatten sie sich so gefreut, dass sie mir um den Hals gefallen waren und ich war nicht mal in der Lage gewesen, ihre Umarmung zu erwidern. Ich konnte einfach nicht. Es war alles zu viel. Wieder hier an diesem Ort zu sein, wo alles begann und alles zu Ende ging.

Heute morgen hatte ich mich auch nicht besser benommen. Meine Großeltern wussten, dass ich meinen Geburtstag seit dem Unfall nicht mehr feierte und doch stand heute morgen ein kleines Päckchen vor meinem Zimmer. Ich hatte es nicht ausgepackt und allein das machte mich zu einem schlechten Menschen. Denn das letzte Geschenk, das ich geöffnet hatte, war von meinem Bruder gewesen.

Automatisch griff ich an meinen Hals, um mich zu versichern, dass die Halskette mit der silbernen Sonne noch immer da war. So war Evan immer bei mir, egal, wohin ich ging.

Damit trat ich durch die Türen des Krankenhauses, in dem mein Bruder die letzten drei Jahre verbracht hatte.

Ich bin hier, großer Bruder. Ich komme zu dir.

Mit zitternden Händen hielt ich wenig später den Türgriff zu seinem Zimmer fest umschlossen.

Mach einfach die Tür auf. Du schaffst das. Schon vergessen, das ist Evan, der da drinnen liegt. Er braucht dich jetzt und du ihn. Also öffne diese Tür.

Bevor ich in das spartanisch ausgestattete Zimmer hineintrat, atmete ich noch einmal tief durch und drückte schließlich vorsichtig die Türklinke herunter. Der Geruch von Desinfektions- und Putzmitteln stach mir in die Nase, als ich die Tür öffnete. Im Zimmer war es unendlich still, nur die Monitore zeigten, dass Evan noch am Leben war.

Als ich ihn entdeckte, zuckte ich unwillkürlich zusammen. Der Junge, der dort in diesem Bett lag, war nicht mein Bruder. Zumindest sah er nicht mehr so aus, wie ich ihn kannte. Seine kurzen, braunen Haare waren nun schulterlang, das Gesicht wirkte blass und seine hohen Wangenknochen stachen skelettartig aus den eingefallenen Wangen hervor.

Sein Körper war von verschiedenen Schläuchen durchlöchert, die ihn mit Nahrung, Flüssigkeit und Medikamenten versorgten. Durch einen Schlauch, der aus seinem Hals ragte, musste er künstlich beatmet werden.

Someday we'll see each other againWhere stories live. Discover now