Kapitel 46

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Alice lag mit dem Rücken zu mir gewandt. Ihre Knie hatte sie fest an ihre Brust gezogen und die Arme um ihre Beine geschlungen. Sie hatte kein einziges Wort gesagt, seit wir das Diner verlassen hatten. Jace hatte Wort gehalten und sie bis in unser Zimmer huckepack getragen. Wie ein großer Bruder hatte er sie ins Bett gelegt und ihr einen Stirnkuss gegeben, als wollte er alles wieder gut machen, was in den letzten Stunden passiert war. Er rang mit sich, als Alice die Hand hob und sein Gesicht umfasste. Seine Augen glänzten verdächtig, ganz so als könnte er es nicht ertragen, sie auf diese Weise zu sehen. Auch wenn die beiden sich öfter stritten, als dass sie friedlich miteinander auskamen, waren sie doch Freunde geworden. Er war uns beiden ein guter Freund geworden, der stets auf uns aufpasste.

Jace und Raven mussten seit etwa zwei Stunden fort sein. Die Nacht hatte mittlerweile Einzug gehalten und die drückende Stille legte sich wie ein eiserner Vorhang zwischen uns. Ich wollte zu ihr und ihr sagen, dass alles gut werden würde, doch es würde die Situation nicht besser machen.

Ich wusste nicht, wie viel Uhr es war, doch ich weigerte mich, dem Schlaf nachzugeben, der unermüdlich an mir kratzte. Ich konnte kein Auge zumachen, solange ich wusste, dass es meiner Freundin schlecht ging. Sie lag die ganze Zeit über still da, bis ein Beben ihren kleinen Körper erschütterte. Ein erneutes Zucken und ein unterdrücktes Schluchzen ließen mich zusammenfahren. Mein Herz schmerzte bei diesem Anblick, weil ich dieses Gefühl zu gut kannte. Ich war Meisterin darin geworden, still zu leiden, damit die anderen meinen inneren Kampf nicht mitbekamen. Sie musste die Lippen fest aufeinandergepresst haben und doch hörte ich in dieser ohrenbetäubenden Stille ihr unterdrücktes Schluchzen.

Ich hielt es nicht mehr aus. Die Matratze knarzte unter meinem Gewicht, als ich mit zittrigen Beinen aufstand und vorsichtig auf ihr Bett zuging. Mein Herz klopfte mahnend gegen meine Brust, als ich die Distanz zwischen uns überbrückte und zu ihr unter die dicke Bettdecke schlüpfte. Ich kuschelte mich an sie und hielt sie im Arm, während ihr Schluchzen immer heftiger wurde. Es war, als würde ihre Seele von innen in Stücke gerissen werden. Ich kannte dieses Gefühl, weshalb ich wusste, dass ich nichts anderes tun konnte, als sie fest an mich zu drücken. Denn ich konnte ihr diesen Schmerz nicht nehmen.

Wie es Dad und Evan immer bei mir getan hatten, wenn ich krank war oder es mir schlecht ging, fuhr ich mit meinem Zeigefinger kleine Kreise über ihren Oberarm. Damals hatte mich die Berührung von meinem Schmerz abgelenkt und ich hoffte, dass es Alice ein wenig helfen würde.

Irgendwann beruhigte sich ihr zittriger Atem. In einer fließenden Bewegung drehte sie sich zu mir um und schaute mich aus tiefgeschwollenen Augen wehmütig an. Die Traurigkeit in ihrem Blick ließ mich innerlich gefrieren. Ich wollte ihr all den Schmerz nehmen. Doch ich konnte nicht. Stattdessen strich ich ihr ein paar Haarsträhnen zurück hinters Ohr und wischte mit der flachen Hand die letzten Tränenreste aus dem Gesicht.

,,Geht's wieder?''

Nein. Ich hoffte, dass sie genau das zu mir sagen und ehrlich sein würde.

Doch sie nickte, obwohl wir beide wussten, dass es eine Lüge war. Ich biss die Zähne fest aufeinander und schloss kurz die Augen. Sie sollte wissen, dass ich für sie da war.

,,Alice'', begann ich den Satz, doch brach sofort wieder ab, weil sich meine Stimme belegt anhörte. Ich wollte stark für sie sein, doch ich war so schlecht darin, andere Menschen zu trösten. Ich fühlte mich unbeholfen und in den meisten Fällen wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Vielleicht lag das daran, dass ich wusste, dass Worte die Situation nicht besser machten. Doch für Alice wollte ich es versuchen.

,,Wenn du traurig bist, dann kannst du zu mir kommen. Ich werde dir zuhören. Ich bin für dich da, auch wenn du nicht die Worte findest, um zu beschreiben, wie es dir geht.''

Someday we'll see each other againWo Geschichten leben. Entdecke jetzt