𝙺𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 𝙴𝚒𝚗𝚞𝚗𝚍𝚏𝚞̈𝚗𝚏𝚣𝚒𝚐

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Drei Wochen vor dem Unfall:

Meine Eltern warteten bereits auf mich, als ich durch die Haustür trat.
»Was ist denn hier los?«
Verwundert ließ ich meine Tasche fallen. Sie zogen Gesichter wie sieben Tage Regenwetter.
»Blake war hier.«
Scheisse. Was?
»Er hat uns alles gesagt.«

Gegenwart:

So richtig Mühe habe ich mir beim Abschminken gestern Abend nicht mehr gegeben, deshalb muss ich jetzt damit klarkommen, dass mein Gesicht aussieht, wie nach einem kalten Sprung ins Wasser. In den Spiegel zu blicken vermeide ich bis ich das gröbste abgewaschen habe.
Meine Miene ist ausdruckslos, meine Augen leer, als ich mit dem Rest meiner Hochsteckfrisur auf dem Kopf den Gang in Richtung der Treppe entlang schlurfe.

Ich bin Gott und allen anderen heiligen Kreaturen dankbar, dass ich solch eine verständnisvolle beste Freundin habe wie Jo. Nachdem ich gestern Abend spurlos mit Julian verschwunden war, hat sie angefangen nach mir zu sehen. Als sie mich schließlich verheult und aufgelöst auf einer Sitzbank draußen fand, gab es für sie nur eines zu tun.

Sie ließ alles stehen und liegen, sie verdarb sich ihren schönsten Abend des Lebens nur um meine bemitleidenswerte Wenigkeit nach Hause zu fahren. Meine Eltern schliefen glücklicherweise schon. Ausgerechnet mit ihnen wollte ich am meisten sprechen.

Warum auch immer sie mich belogen haben, so nach und nach kehren unerwartete und ungewollte Schuldgefühle ein. Schuldgefühle dafür, dass ich sie alle so zur Wahrheit gedrängt habe, und Schuldgefühle dafür, dass sie jetzt die einzigen sind, mit denen ich reden möchte.
Selbst wenn ich es nicht wahr haben möchte, ich brauche meine Familie.

Weil ich keinen Hunger verspüre, gehe ich nur zum Kühlschrank, um mir eine Flasche Wasser zu holen. So lecker das Frühstück auf dem gedeckten Tisch auch aussehen mag, allein vom Geruch der gebratenen Eier wird mir unglaublich schlecht.
Ich habe das dringende Gefühl, wacher zu werden, um ein gescheites Gespräch mit meiner Familie zu führen, deshalb trinke ich mit einem Schluck die halbe Flasche leer.

»Guten Morgen, Emi!«, begrüßt mich Mom mit einem Lächeln. Sie hat gar nicht mitbekommen, wie ich gestern Abend verstört nach Hause gekommen bin. »Du siehst aus als hättest du eine ziemlich spannende Nacht gehabt!«, flötet sie. Normalerweise käme jetzt der Teil, bei dem sie mich über jedes kleinste Detail des Balles ausquetscht. So wie Simon dasitzt, ist er ihr schon zum Opfer gefallen.

»Kann man so sagen«, murmle ich. Auf Details bin ich gerade nicht gut zu sprechen.
»Du bist so früh gegangen. Was war denn?«, erkundigt sich Simon. Für einen Moment bin ich erstaunt darüber, dass Jo meinem Bruder kein Wort über meinen Zustand gesagt hat. Jedoch bin ich heilfroh, dass sie unsere Beziehung mit seiner noch auseinander halten kann.
»Ich war müde«, log ich, bereue es aber sofort wieder. »Ehrlich gesagt, nein, ich war einfach aufgelöst.«

»Warum denn das?«, fragt Mom mit aller Ruhe. Sie erwartet wahrscheinlich irgendeinen kindischen Quatsch, zu dem sie dann ihren üblichen Senf hinzugeben kann. Nicht mal den Blick auf mich gerichtet, schüttet sie sich eine weitere Tasse Kaffee ein.

»Wo ist Dad?«, lenke ich das Gespräch um. Allerdings hat Mom ihren Fokus immer noch auf gestern Abend gelegt. »Bei einem Gerichtstermin. Was war denn gestern Abend? Hattest du keine Lust mehr?«
Ich muss mich dringend zusammenreißen. Noch immer erscheint mir das alles so surreal, aber ich kann nichts daran ändern.

»Nein, nicht nachdem ich erfahren habe, was wirklich passiert ist.« Simon scheint vage Vorstellungen davon zu haben, was als nächstes folgt. Mom hingegen schert sich kein Stückchen um meinen plötzlichen Tonfall. Sie scheint fest davon überzeugt zu sein, alle Lügen seien aus der Welt geschaffen. Zumindest sind sie ja ersetzt worden.

𝙻𝚘𝚜𝚝 𝙼𝚎𝚖𝚘𝚛𝚒𝚎𝚜 ~ 𝙼𝚢 𝚆𝚊𝚢 𝙱𝚊𝚌𝚔 𝚃𝚘 𝚈𝚘𝚞 ~Where stories live. Discover now