𝙺𝚊𝚙𝚒𝚝𝚎𝚕 𝙽𝚎𝚞𝚗𝚞𝚗𝚍𝚟𝚒𝚎𝚛𝚣𝚒𝚐

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Eine Woche vor dem Unfall:

Wir stritten schon wieder. Das war in letzter Zeit nicht das erste Mal und ich befürchtete, dass es auch nicht das letzte Mal sein würde.

»Vor nicht mal zwei Monaten war alles perfekt und dann tust du das?!« Er brüllte mich an. Seine Wut steigerte sich mit jedem Tag, an dem ich keine Entscheidung treffen konnte, was wir tun sollten. Mit jedem Tag, an dem ich dieses Geheimnis mit mir herumtrug.

Ich hatte mich schon tausendmal dafür entschuldigt. Dass es so eskalieren würde und ich auch noch schwanger werden würde, hatte ich auch nicht geplant! Julian wusste es jetzt als einziger schon seit ein paar Wochen, aber wir kamen irgendwie beide nicht so richtig drüber hinweg. Wie auch? Das zerstörte unsere Beziehung...

»Bitte lass uns das hinkriegen, Julian«, flehte ich und Julian ließ den Kopf hängen. Es war geschehen. Wir konnten es nicht rückgängig machen. Blieb nur die Frage, wie wir das jetzt lösen konnten.

Gegenwart:

Wie reagiert man am besten auf so eine Nachricht? Ich habe keine Ahnung, aber ich bin mir sicher, dass meine Reaktion ziemlich gerechtfertigt ist.

Ich starre Julian so lange an, bis mir die Tränen kommen, weil ich es nicht wage zu blinzeln. Alles steht Kopf. Ich habe vergessen, wie man atmet, bis ich nach langer Zeit heftig beginne nach Luft zu schnappen und mich schließlich nicht mehr unter Kontrolle habe. Mein Kleid, meine Haut, es ist mir alles viel zu eng, aber ich kann mich nicht losreißen.

Ich muss mich setzen. Dringend. Mein Gehirn arbeitet nicht mehr richtig. Ich halte mich einfach an der nächsten Wand fest und lasse mich auf den Boden fallen. Ein verdächtiges Reißen ertönt in meinen Ohren. Allerdings ist das völlig nebensächlich.

Inzwischen halte ich mir beide Hände vor dem Gesicht. Ich will die Augen schließen, aber sobald ich das tue, sehe ich bloß Leere. Unendliche Leere, die mich fast umbringt. Deshalb starre ich nicht mehr in Julians bleiches Gesicht, sondern auf den kalten Fußboden, der zumindest verhindert, dass ich möglicherweise noch in Ohnmacht falle.

»Emilia?« Ich zucke nicht nur zusammen, weil Julian mich erst einmal in seinem ganzen Leben so genannt hat, sondern auch, weil ich ihn schon gar nicht mehr wahrgenommen habe.

Julian kommt langsam auf mich zu und kniet sich zu mir. Ich sehe ihn nicht an, deshalb setzt er sich einfach neben mich. Ich höre ihn einige Male heftig durchatmen. Er hat mir gerade die Wahrheit gesagt, mit der ich absolut nicht umgehen kann. In jeder anderen Situation hätte ich ihm nicht geglaubt, aber es gibt für ihn keinen Grund mehr, mir weiter etwas vorzumachen.

Aber wollte ich überhaupt das wissen?

»Ich weiß gar nicht, wie ich das jemals wieder gut machen soll«, flüstert Julian vollkommen erschöpft. So viele Fragen wie jetzt hatte ich noch nie, aber ich kriege es nicht mal hin tief einzuatmen.

»Ich dachte, du wüsstest es wirklich. Aber eigentlich hätte mir das klar sein müssen. Du hättest niemals so gelassen reagiert.« Julian redet weiter auf mich ein, wie leid ihm das alles tue. Wie sehr er versteht, wie ich mich jetzt fühle. Belogen und betrogen. Wie sehr er sich wünscht, alles rückgängig machen zu können und all das, was mich nicht mehr interessiert.

Ich kann nicht einmal einen klaren Gedanken fassen. Die Fragen und einzelnen Wörter vermischen sich in meinem Kopf und nichts ergibt mehr einen Sinn.

Ich glaube Julian redet weiter nur wirres Zeug, weil er mich irgendwie von der entschiedensten Frage ablenken will. Doch als ich sie schließlich schweren Herzens stelle, ist es zu spät.

»Was ist passiert mit...« Ich schlucke die aufsteigende Galle hinunter.
»mit dem..?«, gelingt es mir nicht es zu formulieren. Julian weiß, worauf ich hinaus wollte.

»Ich glaube, das weißt du schon.« Ich hatte gehofft, dass Julian es nicht direkt aussprechen würde. Trotzdem trifft mich diese indirekte Bestätigung hart.

»Sie konnten schon nichts mehr machen, als du ins Krankenhaus geliefert wurdest.« Julians Stimme ist ein einziges Gekratze und normalerweise bekäme ich spätestens jetzt Gänsehaut am ganzen Körper, weil man seinen Schmerz praktisch heraushören kann. Im Moment spüre ich nur den Druck auf meiner Brust, der immer unerträglicher wird.

»Das Baby ist bei dem Unfall gestorben.« Julian scheint sich mit diesem Fakt, wie man unter diesen Umständen sagen kann, schon angefreundet zu haben. Mich jedoch haut es total um.

Erst jetzt verstehe ich, wie real das alles ist, auch wenn ich es mir kaum vorstellen kann.

Ich war schwanger. Da war ein Lebewesen, ein Kind, in meinem Bauch. Und es hat nicht einmal die Chance bekommen, die große weite Welt zu sehen. Das ist alles so unwirklich und doch ergibt es irgendwie Sinn.

Ich breche zusammen. Auf einmal spüre ich wieder den Schmerz, der mich zerreißt. Jeder Teil meines Körpers schmerzt höllisch und ich halte die ansteigende Temperatur in meinem Körper nicht mehr aus. Tränen tropfen auf mein bemitleidenswertes Kleid.

Erst jetzt traut sich Julian, mir näher zu kommen und nach meinem Arm zu greifen. Ich schrecke noch mehr zusammen und er zieht seine Hand sofort zurück. Doch gleich darauf packt er all seinen Mut zusammen und streicht mir die gelösten Strähnen aus dem Gesicht über meine Schulter und lässt seine Hand dort ruhen.

»Warum?«, frage ich schluchzend. Julian glaubt zuerst, ich meine ihn, doch als ich die Frage noch ungefähr zehnmal stelle, versteht er, dass ich gerade einfach nicht anwesend bin.

Ich bin an einem völlig anderen Ort. Nach dem ständigen Hin und Her und dem Wahnsinn, der mich in meinem neuen Leben verfolgte, habe ich es erreicht, tiefer zu fallen, als es je irgendjemand getan hat. Und dieser Ort, an dem ich gelandet bin, ist schlimmer als die Hölle.

𝙻𝚘𝚜𝚝 𝙼𝚎𝚖𝚘𝚛𝚒𝚎𝚜 ~ 𝙼𝚢 𝚆𝚊𝚢 𝙱𝚊𝚌𝚔 𝚃𝚘 𝚈𝚘𝚞 ~Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt